Staatstheater Darmstadt: Premierenbericht von Georg Friedrich Händels „Orlando“

Staatstheater Darmstadt/ ORLANDO / Owen Willetts, Joao Pedro de Paula / Foto © Leszek Januszewski

Orlando ging Angelica schon an die Gurgel, bevor die Oper überhaupt losging.

Das war sicher dem gestrichenen ersten Akt geschuldet. Was beim Lesen des Programmheftes noch wie ein Fehler erschien, war die Wirklichkeit. Im Nachhinein erst taucht dann auch die Frage auf: Was ist mit der Musik des ersten Aktes geschehen?(Rezension der besuchten Premiere am 18. Mai 2019)

 

Aber der Reihe nach. Orlando, der Sänger und Orlando, der Tänzer sitzen bereits auf der offenen Bühne, während sich der Zuschauerraum nach und nach füllt. Das Orchester und der Dirigent sind spielbereit im Orchestergraben. Die Zeit vergeht, es gibt das übliche Gemurmel der Zuschauer. Es ist offensichtlich ein Einfall des Regisseurs, solange mit dem Löschen des Saallichts zu warten und mit dem Spiel zu beginnen, bis dieses Gemurmel verebbt ist. Eine pädagogische Maßnahme? Das würde gut zur Maßregelung der Zuhörer seitens der Dramaturgin zu Beginn des Einführungsvortrages passen.

Auf der Bühne tauchen nach und nach alle Personen der Handlung auf, jede bringt einen Stuhl mit. Agiert wird pantomimisch, die Musik schweigt. Zusätzlich erscheint Frau H auf der Bühne, ein – wie sagt man auf Neudeutsch – Sidekick. Frau H wird das folgende Geschehen an ihrem Kofferradio verfolgen, ausgestattet nicht nur mit einem Stuhl sondern auch mit einem kleinen Tisch, Teetasse, Zigaretten und Cognac.

Der Bühnenraum wird strukturiert mit einer Unzahl an bodenlangen beigen Vorhängen, eine Erfindung der Regie und Dramaturgie, ein Layrinth, wie uns gesagt wird. Jeder der Darsteller und Sänger bewegt sie, zieht sie hin und her, es entstehen so neue Räume.

Gut beraten ist man also, wenn man etwas über die Vorgeschichte zum Orlando gelesen hat und auch den Inhalt der ersten beiden Akte kennt, die irgendwie ineinander verwoben werden.

Staatstheater Darmstadt/ ORLANDO / Foto © Leszek Januszewski

Vorgeschichte

Orlando trägt seine Kämpfe nicht nur auf dem Schlachtfeld aus, er wetzt seinen Säbel auch auf dem Schlachtfeld der Liebe. Der Paladin ist verliebt in Angelica, die wunderschöne chinesische Prinzessin aus dem fernen Reich des Groß-Khans von Cathay. Sie kam einst ins Frankenreich, um in Paris die besten Ritter zu betören und zur Verteidigung ihrer heimatlichen Burg Albracca zu entführen. Orlando folgte ihr bis nach Cathay, kämpfte für sie und erfüllte all ihre Wünsche. Daraufhin begleitete sie ihn zurück ins Frankenreich. Da sie jedoch kein Faustpfand der Liebe sein wollte, gab sie sich schließlich keinem der christlichen Paladine hin, sondern einem der heidnischen Eroberer, dem Sarazenenkrieger Medoro.

Zu Händels Libretto: „Die hinzu erfundene Liebe der Schäferin Dorinda zu Medoro und des Zauberers Zoroastro steter Eifer für die Ehre Orlandos sollen die heftige Art dartun, in welcher Liebe ihre Macht auf die Herzen von Menschen jeden Standes wirken lässt, und ebenso, wie ein weiser Mann jederzeit mit seinem besten Streben bereit sein sollte, auf den rechten Weg jene zurückzuleiten, die vom Trugbild ihrer Leidenschaften in die Irre geführt wurden.

Erster Akt und zweiter Akt

Der Zauberer Zoroastro, gekleidet in einen Star-Wars-Schlafanzug, blickt zum Himmel auf und liest Orlandos Schicksal in den Sternen bzw. in einer mitgeführten Karte des Sternenhimmels. Orlando verehrt die schöne Angelica über alle Maßen, doch Zoroastro weiß, dass sie nur den Maurenfürsten Medoro liebt. Er versucht, Orlando von seiner Liebe abzubringen und an seine Pflichten zu erinnern. Die beiden Liebenden ermahnt er, in Medoros Heimat zu fliehen, er warnt vor der rasenden Eifersucht Orlandos. Angelica weist Orlandos ungestüme Werbung ab und fordert ihn auf, erst neue ritterliche Taten zu vollbringen. Dieser enteilt, seiner Dame gehorchend. Dorinda, eine Schäferin, ist unglücklich verliebt in Medoro, der ihr freundlich versichert, sie niemals zu vergessen. Dorinda lässt sich gern von ihm täuschen und mit einem kostbaren Armband trösten. Medoro und Angelica flüchten.

Staatstheater Darmstadt/ ORLANDO / Julia Giebel, Kana Imagawa, Johannes Seokhoon Moon, Astrid Julen / Foto © Leszek Januszewski

Während die verlassene Dorinda noch klagt, kehrt Orlando zurück und gerät, als er hört, was geschehen ist, in rasende Wut. Orlando erkennt in dem Armband ein Geschenk, das er einst Angelica machte und damit deren Verrat. Er eilt den Entflohenen nach, holt sie ein und stürzt sich auf die, wie er meint, treulose Angelica. Er ist besessen davon, sie zu erobern, will sie bis in die Unterwelt verfolgen und sich dafür sogar das Leben nehmen. Angelica sieht ein, dass sie undankbar gegenüber Orlando war, fühlt sich der Macht Amors aber hilflos ausgeliefert. Zoroastro rettet sie vor den wilden Attacken in die Lüfte. Orlando verfällt in Raserei und bricht bewusstlos zusammen.

Wer vermag die Beiden auseinanderzuhalten, Orlando, gesungen vom Counter Owen Willetts und getanzt von Joao Pedro de Paula. Wer ist der Körper, wer der Geist? Rein optisch könnten sie nicht unterschiedlicher sein, darauf kommt es aber nicht an. Der Sänger spielt seinen Wahnsinn, seine rasende Eifersucht auf wirklich gespenstische Weise. In seinem Kopf dreht sich alles, er macht das nach außen deutlich mit Gesten, Drehbewegungen der Hand. Sein ruhiger besonnener Körper folgt ihm schützend, das ist großartig gemacht.

Das Orchester unterbricht sein Spiel immer wieder, dann ist auch das krächzende Kofferradio von Frau H (KS Elisabeth Hornung) zu hören und Vogelgezwitscher. Zu Dorindas Auftritten (Julie Grutzka) treten Waldelfen auf (die Tänzerinnen Kana Imagawa und Astrid Julen), die auch mal ein Reh über die Bühne tragen. Die Rolle der Dorinada ist angelegt wie Alice im Wunderland, später wird sie von den Elfentänzerinnen auch entsprechend gekleidet werden. Angelica (Julia Giebel) ist inszeniert und gekleidet wie eine Frau aus dem mittleren Management. Für meinen Geschmack fehlt ihr der so schöne typische Händel-Wahnsinn in der Stimme und auch darstellerisch bleibt sie sehr statisch. Medoro (Xiaoyi Xu) ist in ihrer Hosenrolle wunderbar anzuschauen, sie singt und spielt mit Herz und Verstand, ist ihrer Rolle zugewandt. Der Zauberer Zoroastro (Johannes Seokhoon Moon) singt die Rolle mit tiefem Bass, leider lässt ihn sein Anzug aussehen, als käme er von einer Kindergartenfeier.

Dritter Akt

Medoro geht auf Angelicas Wunsch hin zu Dorinda und versucht, ihr verständlich zu machen, dass er sie nicht lieben kann. Sein Herz ist vergeben. Dorinda ist froh, dass er jetzt immerhin die Wahrheit sagt. Orlando trifft in seinem Wahn auf Dorinda, hält sie für Angelica und erklärt ihr seine Liebe. Angelica erfährt durch Dorinda von Orlandos wahnhaftem Zustand. Dorinda beschreibt die Liebe als einen Wind, der neben kurzem Vergnügen lange Trauer bringt. Zoroastro will Orlando heilen. Inzwischen gibt es Nachricht von Orlandos schlimmem Wüten: Er hat Dorindas Haus zerstört und Medoro unter den Trümmern begraben. Bevor Orlandos Zerstörungswut noch mehr Unheil bringen kann, sinkt er in einen tiefen Schlaf. Nun sind Zoroastros magische Kräfte gefragt, um Orlando aus seinem bisherigen desorientierten Zustand zu befreien. Orlando erwacht, ist beschämt, sieht sich fragend um in der Welt und tastet sich in ein neues Leben hinein.

Staatstheater Darmstadt/ ORLANDO / Owen Willetts, Joao Pedro de Paula / Foto © Leszek Januszewski

Die Vorhänge werden hier zum Mitspieler, Dorinda wird darin eingewickelt von Orlando, sehr plakativ. Er hätte besser genauer hingeschaut. Der Zauber, den Zoroastro ausüben könnte, wenn er Angelica vor dem Wahnsinn Orlandos in die Lüfte rettet oder Orlando mit seinen Zaubertropfen von seinem Wahn befreit muss sich in meinem Kopf abspielen, inszeniert ist er nicht. Die Stühle, die zu Beginn auf die Bühne gebracht wurden und die zwischenzeitlich verschwunden waren, kehren jetzt zurück und alle Protagonisten, auch Medoro ist unter den Trümmern nichts passiert, spielen eine Partie „Reise nach Jerusalem“.

Alles ist gut, gestorben ist keiner, nur verschwunden, nämlich die Musik des ersten Akts. Oder?

Zum Schluss möchte ich noch ein Zitat anhängen aus dem Begleitheft zum Orlando (dem ursprünglich rasenden Roland):

 

Liebeserklärung II

Das Scheitern, und ist es das Scheitern, dann ist dieses abverlangte Scheitern ein so grundsätzliches, also so oder so heißt es, einsteigen, aussteigen, anders sein, und heißt das Anderssein schließlich Scheitern, dann ist das ein so grundsätzliches Scheitern, dass man manchmal nicht recht weiß, ob der Zug noch fährt oder still steht, kein Rücken ist zu vernehmen, kein Räderschleifen, Räderschaben, kein Schwarz ist zu sehen außer Schwarz, dieses Einheitsschwarz, dieses Draußen, ist also eine Prüfung eine einstweilige, und muss sie deshalb in der Zeit aufgehoben werden, so hebt dich das Scheitern auf, belässt dich nicht, greift dich an, erschüttert dich, grundfest, ist also die Liebe eine Prüfung, nicht wahr, so ist das Scheitern eine in dich hineinragende zweite Persönlichkeit, du hast alles verloren, du hast eine zweite Persönlichkeit gewonnen, du hast gar nichts gewonnen, sie ragt in dich hinein, fordert Platz und Beachtung, sie ist dein Scheitern, sie höhlt dich aus, frisst dich leer, schaut mit ihren eigenen Augen aus deinen, die die ihren sind, sie hat dich grundsätzlich enteignet, du bist Leibeigener des Scheiterns, andererseits, „wenn alles ins Stocken geraten ist, wenn der Gedanke still steht, wenn die Sprache verstummt ist, wenn die Erklärung verzweifelt umkehrt – dann muß ein Gewitter her“, und hier also, alter Däne, während der ganzen Zeit, tobt hier ein Gewitter, ein Liebesgewitter, ein Staats- und Landgewitter, und steht am Ende auch, „Die Stürme haben ausgerast – das Unwetter ist vorbei“, hier ist kein Hiobtrost, es ist ein Gewitter hier, und wir wissen uns nicht zu verhalten, wir stellen Fragen unentwegt. – Michael Lentz

 

Premiere des Orlando von Georg Friedrich Händel an der Staatsoper Darmstadt am 18. Mai 2019

Musikalische Leitung: Michael Nündel

Es spielt das Staatsorchester Darmstadt

Regie und Choreographie: Jörg Weinöhl

Bühne: Philipp Fürhofer

Kostüm: Philipp Fürhofer, Hannah Barbara Bachmann

Dramaturgie: Yvonne Gebauer

 

  • Rezension von Angelika Matthäus/Red. DAS OPERNMAGAZIN
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  • Titelfoto: Staatstheater Darmstadt/ ORLANDO / Owen Willetts, Joao Pedro de Paula / Foto © Leszek Januszewski
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Ein Gedanke zu „Staatstheater Darmstadt: Premierenbericht von Georg Friedrich Händels „Orlando“

  1. Super! Das Lesen hat Freude bereitet! Manches hat Angelika Matthäus so eindringlich beschrieben, dass mir sofort das Bild wieder vor Augen erschien – z. B. die im Vorhang eingewickelte Dorinda und die Frau H. mit dem Ghetto-Blaster… Auch der Ton – des Kofferradios (nicht des Orchesters, sorry…) war mir sofort wieder im Ohr. Der Hinweis auf den gestrichenen ersten Akt und die Konsequenz, dass man gut beraten sei, wenn man sich vorbereitet habe, gefällt mir bestens. Ich hatte mich vorbereitet – hätte ich es nicht getan, ich hätte fast nichts verstanden… – Der leicht ironische Unterton in der Rezension gefällt mir bestens… Auch die Erklärung zu den zwei Personen, die eins sind – Tänzer und Sänger – finde ich sehr gut, denn ich glaube nicht, dass jeder Premierenbesucher diese Intention der Macher verstanden hat – mit Sicherheit nicht sofort…

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