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„Manon Lescaut“ in Frankfurt: Die andere Seite der Liebe

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Vom Unglück verfolgt, verloren: Joshua Guerrero und Asmik Grigorian im letzten Akt.
Vom Unglück verfolgt, verloren: Joshua Guerrero und Asmik Grigorian im letzten Akt. © Barbara Aumüller

Asmik Grigorian geht als Manon aufs Ganze und beschert der Oper Frankfurt im Verein mit dem Tenorkollegen Joshua Guerrero, dem Dirigenten Lorenzo Viotti und einer unverhohlen modernen Umgebung einen Puccini der Extraklasse.

Der Operntod, dem der irrige Ruf vorausgeht, er sei schön, zeigt sich in der neuen „Manon Lescaut“ am Frankfurter Opernhaus als der Abgrund von Verzweiflung, der er ist. Man sieht, wie De Grieux in den Hintergrund abgeht, um doch noch einmal nach Hilfe und Rettung zu suchen, ganz unpathetisch, ganz klag- und ganz sinnlos, stellvertretend für alle, die das je versucht haben und noch versuchen werden. Man hört Manon singen, herausschreien, dass sie nicht sterben will, und sie schreit das heraus, aber sie und wir wissen, dass es genau so kommen wird. Erst recht weiß es die Musik von Giacomo Puccini, die heute Abend alle Süße abgelegt hat, transparent und schnittig, später hart und scharf ist, Paukenschläge wie Schüsse, wimmernde und drohende Streicher, Blechbläser, die zwischenzeitlich alle milde ausbalancierte Zurückhaltung fahren lassen. Der Tod ist keine Melancholie, der Tod ist ein Schrecken.

Manon stirbt wirklich in den Armen De Grieux’, in denen sie fast verschwindet, in denen sie ihm aber auch abhanden kommt nach Art von Sterbenden, alle können es sehen, während De Grieux nicht bereit ist, sie loszulassen, natürlich nicht. Die vier bühnenhohen dreidimensionalen Buchstaben des Wortes „Love“, die den Abend begleitet haben – so riesig, dass De Grieux Manon zwischendurch sanft auf den unteren E-Strich betten kann –, stehen jetzt wie Betonpfeiler in der Wüste, die in Frankfurt daraus besteht, dass da nichts ist. Die Buchstaben sind im letzten Bild zunächst von hinten zu sehen, also spiegelbildlich. Ungemein langsam drehen sie sich auf der Drehbühne wieder nach vorne. Da ist sie also wieder, die Liebe, nutzlos und trübe, während Manon stirbt. Die Regie widersteht an dieser Stelle der Versuchung, noch irgendetwas Größeres zu unternehmen. Um das zusammengekauerte Paar am Boden, die Tote und ihren Geliebten, wird es bloß langsam Nacht. Und das Publikum schafft es, noch einen Moment lang nicht zu klatschen und zu rufen, obwohl es wirklich ein Traumpaar gehört und gesehen hat: so jung und schön, glücklos im Leben, aber nicht im Singen.

De Grieux ist der aus Las Vegas stammende Sänger Joshua Guerrero, den man in Europa noch kaum erleben konnte, aber nun hat er hier sein bejubeltes Deutschland-Debüt (nächstes Jahr geht es als Rodolfo an die Komische Oper Berlin): ein nahezu perfekter italienischer Tenor, wenn man es nicht zu schluchzend haben will. Guerrero schluchzt im Bedarfsfall auch, aber hier, in der unter dem noch immer nicht dreißigjährigen Dirigenten Lorenzo Viotti musikalisch schlankesten, modernsten aller denkbaren „Manon Lescauts“, ist mehr die jugendliche Leichtigkeit seiner Stimme gefragt: ihr angenehmes Timbre, ihre angesichts der nicht bequemen Partie staunenswerte „Natürlichkeit“.

Die Titelheldin ist Asmik Grigorian, soeben in der Zeitschrift „Opernwelt“ zur Sängerin des Jahres gewählt und zwar vor allem für ihre Salzburger Salome, eine viel sprödere, stilisiertere Rolle. Denn nun ist sie die zarteste, quicklebendigste, verlorenste Manon, der man jemals begegnet sein wird – ja, da kann man sich bereits festlegen –, eine Filmstar-Manon, und sie singt das Unglück, das an Manon klebt, über weite Strecken ganz fahl heraus. Das Unglück ist bleischwer. In den hyperrealistischen Szenen (beim Schminken, und nun noch ein Schönheitsfleck) wird ihr Sopran so metallisch kalt und beiläufig – Manon lebt dieses Leben, aber sie hasst es auch –, dass sich zeigt: Nicht nur Grigorian ist eine überwältigende Schauspielerin, sondern auch ihre Stimme. Blühen kann sie jederzeit, wenn Manon an das Glück denkt, das sie ja auch hatte, aber immer nur zwischen den Akten.

Das Episodische des unter beträchtlichem Autorenverschleiß herbeigerungenen und -gezwungenen „Manon Lescaut“-Librettos kann störend wirken. Aber die Regie von Àlex Ollé unter der Mitarbeit von Valentina Carrasco ist planvoll, ein Plan, den Viotti zu hundert Prozent ebenfalls vertritt. Die Frankfurter Manon ist illegal nach Westeuropa gekommen, vor Beginn der Ouvertüre sieht man sie auf einem Video (Emmanuel Carlier) nachts mit anderen beim Durchschneiden von Maschendrahtzaun, dann in einer Näherei.

Im ersten Akt erreicht Manon mit anderen Migranten in einem Kleinbus Paris, ein schlichtes Café unter einer schrägen Betonwand, die das gigantische LOVE halb verdeckt. Eine mordsmäßige Bühne von Alfons Flores, der wie alle im Inszenierungsteam mit Ollé und der katalanischen Truppe La Fura dels Baus regelmäßig zusammenarbeitet, in Frankfurt bereits beim Doppelabend „La damoiselle élue“/„Jeanne d’Arc au bûcher“. Das la-Fura-dels-Baus-übliche Großformat hat auch Nachteile, die Größe ist immer eine Übergröße. Unbestreitbar hingegen, dass die Verlegung in die Gegenwart und in ein Menschenhandelmilieu hervorragend funktioniert. „Manon Lescaut“ leidet ja etwas an der Verlogenheit, daran, dass das seinerzeit Unaussprechliche salonhaft und dadurch erst recht schlüpfrig übertüncht wird (Frauen-An- und Verkauf, Sex für Geld in zutiefst asymmetrischen Machtverhältnissen). Nun ist die Geschichte einmal so zu sehen, wie sie ist, kann man sagen.

Abwechslungsreich wird das Café vom Chor belebt. Michael Porter als argloser Edmondo glänzt mit dem Eröffnungssong, denn Puccini lässt es wie immer atmosphärisch angehen. Man trägt ganz Heutiges von Lluc Castells. Einerseits waltet Sorgfalt, Individuen werden herausgearbeitet, Gäste kommen und gehen, links ist Magnús Baldvinsson als geschäftiger Wirt, hier: Hotelportier, mit dem Ein- und Auschecken befasst. Andererseits behält die Szene etwas Statisches im Riesigen. Da Manon und De Grieux – es ist Liebe auf den ersten Blick – im Kleinbus fliehen und Kleinbusse auf Opernbühnen ungemein langsam und still sein müssen, gestaltet sich diese Flucht zudem bei weitem nicht mit dem hier angestrebten Realismus.

Recht spektakulär senkt sich zum zweiten Akt die Betonwand, macht den Blick auf LOVE frei und zeigt sich selbst auf der Rückseite als komplett eingerichtetes Poledance-Etablissement. Auch das jetzt einsetzende Gewusel im Zwielicht und mit viel, das heißt wenig sexy Bekleidung ist etwas undynamisch, ein mit gewaltigem Aufwand hergestelltes, dann aber dahinplätscherndes Wimmelbild, so geschickt die Tanz- und Sing-Lektionen und -Nummern eingearbeitet wurden (ganz auf der Höhe mit Bianca Andrew als Musikerin und Jaeil Kim als Tanzmeister). Die gelangweilte, freudlose, herrlich abtörnende Manon an der Stange ist ein Knüller, aber um sie herum herrscht ein Übermaß an Dekoration und Konzept, ohne die letzte Konsequenz der Durcharbeitung – markant, dass der Chor (von Tilman Michael gut eingestellt) in die doch stets aufgeregten Brüche, eine Flucht, einen vergeblichen Fluchtversuch, kaum oder gar nicht einbezogen wird. Vielleicht gibt gerade der mögliche Wunsch, Konventionen zu vermeiden, diesen Momenten etwas Lahmes.

Aber nie im Zentrum, wo Manon lebt und ist, und um sie her ist auch alles lebendig: Zu De Grieux kommt als Dritter im traurigen Bund ihr windiger Bruder Lescaut, der sympathische, stimmlich wie körperlich bewegliche Iurii Samoilov. Im Gebaren ist Guerrero der konventionellste der drei, am ehesten bei ihm hebt sich gelegentlich der theatralische Opernarm. Zum zuhälterischen Schuft wird Donato Di Stefano, obwohl sein Geronte so milde väterlich singt.

Auch nach der Pause bleibt die Umgebung ungemein plausibel. Manon wartet mit anderen Migranten in einem Käfig auf die Abschiebung. Schade, dass die Käfigflucht erst zur Bühnendrehung am Aktende voll zu sehen ist, im Parkett jedenfalls versuppt der Aufwand etwas im Dunkel. So ist es das Schlussbild, das mit dem LOVE versöhnt, aber nicht mit dem Tod.

Das Thema Zwischenapplaus: glücklicherweise passé, wenn Puccini so straff dirigiert wird und Pausen so unbedingt als Kunstpausen wahrgenommen werden können. Viotti führt vor, wie differenzierte Puccini-Musik kein Widerspruch zu Eleganz und leichtem Schmelz sein muss. In einigen komplizierten Szenen drohten Chor und Orchester kurz auseinanderzudriften, der organischen, fischschwarmhaften Beweglichkeit tat das keinen Abbruch.

Oper Frankfurt: 10., 13., 18., 25., 27. Oktober. 2., 9., 15., 23. November. www.oper-frankfurt.de

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