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Keine Liebe in einer falschen Welt

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Boris (Dmitry Belosselskiy, Mitte) demütigt seine Schwiegertochter Katerina (Anja Kampe). Sie muss vor ihrem Mann Sinowi (Evgeny Akimov) niederknien.
Boris (Dmitry Belosselskiy, Mitte) demütigt seine Schwiegertochter Katerina (Anja Kampe). Sie muss vor ihrem Mann Sinowi (Evgeny Akimov) niederknien. © Barbara Aumüller

»Lady Macbeth von Mzensk« überwältigt in Frankfurt als düsteres Opus magnum. Regisseur Anselm Weber zeigt ein Ausmaß an Verrohung, das der in Schostakowitschs Partitur fixierten menschlichen Niedertracht entspricht. Anja Kampe in der Rolle der Vierfachmörderin Katerina und Dmitry Belosselskiy als ihr sadistischer Gegenspieler Boris liefern sich einen grandiosen Kampf.

Ratten leben so. Wenn sie zum Futtersuchen nach oben huschen. Oder Menschen, denen man jegliche Menschlichkeit ausgetrieben hat. Dieser bühnenbreite Betontrichter, den Kaspar Glarner für die Frankfurter Oper als Einheitsbühnenbild errichtet hat, mit seinen rutschfesten Schrägen und einer einzigen, fernsteuerbaren Tür, ist an Trostlosigkeit nicht zu überbieten. Sieht so das Auffangbecken einer Kanalisation aus, einer Industrieanlage oder eines riesigen Staudamms? In diesem rechtsfreien Raum vegetiert Kaufmannsgattin Katerina vor sich hin, die sich in ihrem Gefangensein in keiner Weise von den einfachen Arbeitern unterscheidet. Denn Schwiegervater Boris hat den Schlüssel zur einzigen Tür und überwacht sie bis hinein ins Schlafzimmer mit zudringlichen Kameras über sein Smartphone.

Schauspielchef Anselm Weber hat die versunkene Welt des zaristischen Russlands - Nikolai Leskows Novelle, die der Oper zugrunde liegt, stammt aus dem Jahr 1865 - mit seinem brutalen Patriarchat, der korrupten Polizei und einer an der Macht klebenden Kirche in die nahe Zukunft fortgeschrieben. Mit Katerina steht eine Frau im Mittelpunkt, die anfangs noch auf künstliche Weise versucht, ihrer Entrechtung zu entgegen: Sie träumt sich mittels einer VR-Brille hinein in eine friedvolle Welt mit Wäldern, Blumen und freiem Sex.

Als Schürzenjäger Sergei auch bei ihr zudringlich wird, glaubt sie, mit ihm die große Leidenschaft erleben zu können. Und setzt für dieses armselige Glück ihre gesamte Existenz aufs Spiel. Den übergriffigen Boris vergiftet sie mit Pilzen, erwürgt gemeinsam mit dem Geliebten ihren Mann Sinowi und ertränkt sich dann am Ende, indem sie ihre Nebenbuhlerin Sonjetka mit in die Fluten reißt.

Schostakowitschs Musik erzählt mit gewaltigen Chorszenen von Auspeitschung, dumpfer Männerherrschaft und permanenten Übergriffen auf Frauen. Dabei gelingt es Weber, die Massenvergewaltigung der Hausangestellten Axinja (große Ausdruckskraft: Julia Dawson) so spielen zu lassen, dass nicht das Opfer auf der Bühne bloßgestellt wird, sondern der Blick an den feixenden Männerhorden hängen bleibt.

Fein austariert auch seine Personenregie, wenn Popen homoerotisch tanzen, Polizisten sich breitbeinig ins Spiel bringen und der böse Boris als menschliche Oberratte kurz vor seinem Tod verkitschten Wiener Walzer tanzt.

Gast-Star Anja Kampe steht beides zu Gebote: hochdramatische Intensität und lyrische Wärme, mit der sie ihren Leidensweg beschreitet. Am Ende, wenn sie, vernichtet von Sergeis Verrat, in ihrer finalen Kantilene innerlich zerbricht, zeigt sich auch ihre ganze darstellerische Größe. Mit Dmitry Golovnin als Sergei steht ihr ein spannungsgeladener Liebhaber zur Seite, mit dem sie ringen, den sie lieben und den sie zutiefst hassen kann.

Satirische Charakterstudien

Bassist Belosselskiy brilliert nicht nur als omnipotenter Übervater, sondern zusätzlich als alter Zwangsarbeiter, den der Komponist als einzige emphatische Rolle in seine Partitur geschrieben hat. Evgeny Akimov ist ein windiger Sinowi, Peter Marsh ein bemitleidenswerter Hofnarr, Alfred Reiter ein köstlich anzüglicher Pope, Iain MacNeil ein gefährlicher Polizeichef und Zanda Svede eine ernst zu nehmende Konkurrentin.

Sebastian Weigle lässt sowohl die jaulenden Schreie im Blech zur berühmten Kopulationsmusik der Liebenden drastisch ausspielen, als auch die lyrischen Passagen wunderbar innig leuchten. Zudem gelingt es ihm vorzüglich, die omnipräsente Bühnenmusik in den Beleuchtungsklappen rechts und links über dem Orchestergraben, die satirischen Charakterstudien und die kolossalen Chortableaus einheitlich zusammenzuführen.

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