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Opern-Kritik: Salzburger Festspiele – Elektra

Schreiendes Mitleid

(Hamburg/Salzburg, 1.8.2020) Wie lief die Eröffnung der Salzburger Festspiele? Eine Ferndiagnose aus 950 Kilometern Distanz. Die Live-Übertragung der „Elektra“ in ausgewählten Kinos machte sie möglich.

vonPeter Krause,

Sie beobachtet. Mit jener absoluten äußeren Ruhe, die überlegen wirkt und doch von maximalem innerem Brodeln kündet. Zumal von Letzterem weiß auch die Musik, die als veritabler Seelenseismograf verrät, was als tiefe, harte und dunkle Ablagerungen der Vergangenheit das Leben dieser jungen Frau bestimmt und brutal einengt auf genau ein Ziel: Rache für den Mord an ihrem Vater. Mit der „Elektra“, dem freudianischen Werk, das gleich zwei der Gründungsväter der Salzburger Festspiele schufen, wurde nun die Geburtstagsausgabe zum 100-jährigen Jubiläum eingeläutet. Mit endlich wieder echtem Publikum vor Ort in der Felsenreitschule in disziplinierter Covid-19-Konformität und unter Einhaltung strenger Hygienestandards sowie mit live zugeschalteten Freundinnen und Freunden der Oper, die erstmals in angenehm klimatisierten Kinos in überaus bequemen riesigen roten Sesseln und ihrerseits den Distanzregeln Folge leistend genau verfolgen konnten, wie die blutrünstige Atridentragödie in der Lesart von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss ihren leichengepflasterten Weg nehmen würde.

Elektra als kluge Salome-Kindfrau im weißen Kleidchen

Ausrine Stundyte & Michael Laurenz
Ausrine Stundyte & Michael Laurenz

Der Erfolg der Premiere dieser „Elektra“ mag viele Mütter und Väter haben. Einer Frau aber gehört er ganz besonders. Sie heißt Ausrine Stundyte, war in Köln engagiert und dann mehrere Jahre Ensemblemitglied des Theater Lübeck, wo sie der Marschallin im „Rosenkavalier“, der Kundry im „Parsifal“, der Marietta in „Die tote Stadt“ oder der Santuzza in „Cavalleria Rusticana“ mit ihrem Temperamentsvulkan aufregend andere Facetten abgewann. Eben dies vermag die litauische Sopranistin nun bei ihrem Salzburger Festspieldebüt als Elektra. Statteten große Rollenvertreterinnen der letzten Jahrzehnte wie Birgit Nilsson, Inge Borkh, Gwyneth Jones oder Gabriele Schnaut das Racheweib, das die Tat gleich einem weiblichen Hamlet nur selbst nicht vollbringen kann, die Paraderolle einer Hochdramatischen gern mit einem Sopran aus Stahl und einem Herz aus Stein aus, geht Ausrine Stundyte ganz anders vor. In ihrem weißen Mädchenkleid ist sie mehr die auf ihre Chance lauernde, klug das Geschehen um sie herum beobachtende und analysierende frühreife Salome-Kindfrau denn die sich in dumpfe Aggression vergrabende frühalte Prinzessin. Intensität gewinnt sie zunächst aus der Darstellung und der Identifizierung mit der Figur, erst dann aus dem Gesang. Ihr jugendlicher Sopran ist kleiner als jener ihrer bedeutenden Vorgängerinnen, die Ausdrucksdichte ist indes mindestens so groß wie jener ihrer historischen Kolleginnen.

Ausrine Stundyte in der Titelpartie ist eine grandiose Sängerdarstellerin – die Close-ups im Kino bringen uns Elektras Schicksal extra nah

Ausrine Stundyte & Asmik Grigorian
Ausrine Stundyte & Asmik Grigorian

Wenn diese moderne junge Frau als Elektra ihre sich ihr ausliefernde Mutter Klytämnestra (Tanja Ariane Baumgartner muss das Horrorweib leider mit allen Klischees einer augenrollenden Stummfilmhexe abliefern, ihr Mezzo ist dabei freilich eine Wucht) lauernd genau beobachtet, zeigt Ausrine Stundyte, wieviel stärker sie, das Opfer, doch gegenüber der von ihren Albträumen geplagten Königsmörderin ist. Und der echte Mehrwert des Kinoerlebnisses der Premiere ist, dass die Close-ups auf die Mimik der Ausrine Stundyte uns Elektras Schicksal im reinen Wortsinne nahebringen und uns somit unmittelbar berühren. Diese grandiose Sängerdarstellerin löst gleichsam schreiendes Mitleid aus. Und die Seconda Donna in Gestalt von Asmik Grigorian, die 2019 in Salzburg die umjubelte Salome war, büßt als dem Leben (in Hofmannsthals Libretto ist es die erhoffte Mutterschaft) zugewandte flippige kleine Schwester und Gegenfigur in der Folge von Stundytes Dominanz an Bedeutung ein.

Franz Welser-Möst lauscht mit den Wiener Philharmonikern der unerhörten Eleganz und Feinheit der Partitur nach

Tanja Ariane Baumgartner, Ausrine Stundyte, Asmik Grigorian, Verity Wingate & Valeria Savinskaja
Tanja Ariane Baumgartner, Ausrine Stundyte, Asmik Grigorian, Verity Wingate & Valeria Savinskaja

Interessanter gerät Krzysztof Warlikowski in seiner Regie die Beziehung von Elektra und Orest in der Anagnorisis-Szene. Derek Welton zeichnet Elektras aus der Verbannung heimkehrenden Bruder betont baritonsensibel nicht als Heros des Handelns, sondern als großen Jungen im Norwegerpullover, der die ihm auferlegte Tat als unendliche Last auffasst, nach deren Erfüllung er in sich gesunken in eine Handlungsstarre verfällt. Ganz gegen die Macht der Erwartung des entgrenzten Klangrausches lauscht Franz Welser-Möst mit den Wiener Philharmonikern der unerhörten Eleganz und Feinheit der Partitur nach, musiziert die harmonischen Spannungsfelder dabei weit und psychologisch präzise mit immer wieder sich den Stimmen wunderbar anschmiegenden Holzbläsersoli aus. Der Maestro trägt die Sängerinnen auf Händen.

Kino-Inklusion vs. Jetset-Exklusivität

Tanja Ariane Baumgartner, Ausrine Stundyte, Asmik Grigorian, Michael Laurenz, Derek Welton, Tilmann Rönnebeck, Verity Wingate, Valeria Savinskaja, Matthäus Schmidtlechner & Sonja Saric
Tanja Ariane Baumgartner, Ausrine Stundyte, Asmik Grigorian, Michael Laurenz, Derek Welton, Tilmann Rönnebeck, Verity Wingate, Valeria Savinskaja, Matthäus Schmidtlechner & Sonja Saric

Während die am selben Abend nachfolgende Premiere des Traditionsstücks „Jedermann“ gewitterbedingt vom Domplatz ins Große Festspielhaus verlegt werden musste, bot die Rezeption im Kino wiederum die bessere Alternative in Form der Übertragung der Generalprobe vom originalen Schauplatz bei bestem Wetter. Darin glänzte ein charismatischer Tobias Moretti in der Titelpartie jenes Schauspiels, das als moralinsauer antimoderne katholische Parabel nur durch so wirklich große Schauspieler wie ihn zu retten ist. Die weltweite Verbreiterung des Publikums durch die Öffnung des zu oft als Event eines exklusiven Jetsets verschrienen Festivals durch die Übertragung in Kinosäle darf einstweilen als wichtiges Zeichen gelten. So werde die Salzburger Festspiele mehr denn je zum kosmopolitischen Ereignis. Und ihr Stattfinden nach den frühen Absagen etwa der Bayreuther Festspiele ist ein gewichtiges Zeichen für die Wiedergeburt der Live-Kultur nach den Monaten der pandemiebedingten Entsagung.

Salzburger Festspiele
R. Strauss: Elektra

Franz Welser-Möst (Leitung), Krzysztof Warlikowski (Regie), Małgorzata Szczęśniak (Bühne & Kostüme), Tanja Ariane Baumgartner, Ausrine Stundyte, Asmik Grigorian, Michael Laurenz, Derek Welton, Wiener Philharmoniker

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