Letzte Ausfahrt Genf: Abschiedsbesuch von einer Ausserirdischen

Das Grand Théâtre hat Pech mit seiner spannenden Produktion von Leoš Janáčeks «Die Sache Makropulos» – die zweite Aufführung war sogleich die Dernière. Und wohl für lange Zeit die letzte Live-Opernaufführung in der Schweiz.

Thomas Schacher, Genf
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Auch Ausserirdische müssen irgendwann sterben: Emilia Marty (Rachel Harnisch) wird lernen, nach 337 Lebensjahren den Tod zu akzeptieren.

Auch Ausserirdische müssen irgendwann sterben: Emilia Marty (Rachel Harnisch) wird lernen, nach 337 Lebensjahren den Tod zu akzeptieren.

GTG

Auf Deutsch klingt der Titel so attraktiv wie das Traktandum einer Parlaments- oder Gerichtssitzung. Auf Französisch heisst Leoš Janáčeks vorletzte Oper immerhin «L’affaire Makropoulos», was der Phantasie gleich viel mehr Raum eröffnet. Zufälligerweise ist dieses Werk innert Jahresfrist sowohl am Opernhaus Zürich als auch am Grand Théâtre de Genève produziert worden – Janáčeks meisterhafte Bühnenwerke sind zum Glück inzwischen fester Bestandteil des Repertoires geworden. Der Vergleich ist vor allem beim Regiekonzept spannend. Darüber hinaus mussten als Folge der Corona-Pandemie auch in Genf einschneidende Eingriffe auf der musikalischen Ebene vorgenommen werden.

Die Hauptfigur, die Sängerin Emilia Marty, wäre – ginge es mit rechten Dingen zu – schon lange gestorben. Doch auch im Alter von 337 Jahren ist sie immer noch am Leben. Des Rätsels Lösung: Ihr Vater, der Alchimist Hieronymos Makropulos, hatte einst für den Habsburgerkaiser Rudolf II. ein Elixier hergestellt, das ewiges Leben versprach. Weil der Kaiser misstrauisch war, musste Makropulos das Mittel an seiner Tochter ausprobieren. Scheinbar missglückte das Experiment, Makropulos wurde hingerichtet. Doch Emilia überlebte nach längerem Koma. Seither irrt sie ruhelos durch die Zeiten und Länder – sie muss nämlich unbedingt das verlorengegangene Rezept ihres Vaters wiederfinden, denn die Wirkung des Elixiers beginnt nachzulassen, und anfangs ist sie noch immer nicht bereit, vom Leben zu lassen.

Berührende Darstellung

Ein reizvoller, aber auch etwas verworrener Stoff. Wie kann da ein Regisseur das Interesse eines heutigen Publikums erwecken? In Zürich hatte Dmitri Tcherniakov vor Jahresfrist das Geschehen als Reality-TV-Show gedeutet, in der sich das verstaubte Interieur der Handlung am Schluss in ein Fernsehstudio verwandelt. In Genf, wo der Intendant Aviel Cahn eine Produktion der damals von ihm geleiteten Flämischen Oper aus dem Jahr 2016 mitgebracht hat, geht man andere Wege. Der ungarische Regisseur und Filmemacher Kornél Mundruczó macht aus dem Stück einen Psychothriller. Darin erscheint Emilia Marty als Ausserirdische – eine ebenso verblüffende wie schlüssige Deutung.

Im ersten Bild zeigt die Ausstatterin Monika Pormale einen Gerichtssaal: Sechs Richter in Raumanzügen sitzen hinter einem langen Tisch und wühlen in ihren Akten. Auch Emilia trägt bei ihrem ersten Auftritt einen Astronautenhelm. Eine Filmsequenz – eine Autofahrt durch die Wälder Mährens, der Heimat Janáčeks – führt dann in die ganz und gar irdische Wohnung von Jaroslav Prus. Wir blicken in ein modernes Interieur aus den 1920er Jahren, der Entstehungszeit der Oper. Hier macht Emilia der Reihe nach alle Männer fertig, die ihr verfallen sind: den Lover Albert Gregor (Aleš Briscein), den schmierigen Anwalt Kolenatý (Karoly Szemeredy), dessen unterwürfigen Assistenten Vitek (Sam Furness) und den jungen Janek, Prus’ Sohn (Julien Henric). Nur mit Prus selber (Michael Kraus) geht sie ins Bett, dies aber einzig, um ihn zur Herausgabe des dubiosen Rezepts zu zwingen.

Am Ende fühlt man Mitleid: eine grandiose Rachel Harnisch in der Rolle der Emilia Marty am Grand Théâtre de Genève.

Am Ende fühlt man Mitleid: eine grandiose Rachel Harnisch in der Rolle der Emilia Marty am Grand Théâtre de Genève.

GTG

Die Schweizer Sopranistin Rachel Harnisch, die schon 2016 die Titelrolle gesungen hat, beeindruckt auch in Genf durch eine berührende Darstellung. Ihre Emilia Marty ist nicht die Diva mit der opulenten Stimme, wie sie meistens gegeben wird, sondern eine zerbrechliche, einsame Frau mit einem leichten Sopran. Optisch als androgynes Wesen gezeichnet, zu Beginn in Lederhose und Hemd, mit Sonnenbrille und Michael-Jackson-Frisur, häutet sie sich im Verlauf des Stücks mehr und mehr. Im Schlussmonolog steht sie fast nackt, mit bandagierten Knien und kahlem Kopf (hat sie Krebs?) auf der Bühne und erweckt in ihrer Gebrechlichkeit nur noch Mitleid.

Im Ton-Korsett

Doch wo ist eigentlich das Orchestre de la Suisse Romande? Was die Corona-bedingten Einschränkungen bei der Orchestermitwirkung betrifft, agierte man zu Saisonbeginn in Genf noch wagemutiger als in Zürich. Während in Zürich Dirigent, Chor und Orchester in einem Probelokal musizierten und dabei der Klang via Glasfasernetz live in das Opernhaus übertragen wurde, begann man in Genf in herkömmlicher Art mit einer modifizierten Aufstellung des Orchesters, das live im Graben spielte. Nachdem dies im September bei der Neuproduktion von Rossinis «La Cenerentola» noch funktioniert hatte, musste das Grand Théâtre wegen des starken Anstiegs der Neuinfektionen die Notbremse ziehen.

Bei der «Sache Makropulos» spielt das Orchester nun nicht mehr live, vielmehr wird eine Einspielung des reinen Orchesterparts verwendet, die man im Sommer in weiser Voraussicht angefertigt hatte. Beim jetzt realisierten Plan B ergibt sich die ungewöhnliche und etwas groteske Situation, dass der Dirigent Tomáš Netopil seine eigene Aufnahme nachdirigiert und dabei die Sänger mit dem unverrückbar vorgegebenen Fluss dieser Einspielung synchronisieren muss. Rhythmisch und klanglich funktioniert dies allerdings recht gut. Im Orchestergraben sind auf der ganzen Fläche über zwanzig Lautsprecher aufgestellt, so dass der Klang, zusätzlich live ausgesteuert durch einen Tontechniker, in seiner räumlichen Dimension erstaunlich «echt» daherkommt. Gleichwohl will sich der Live-Charakter nicht recht einstellen, auch weil der Dirigent keine Möglichkeiten hat, auf Entwicklungen zu reagieren, etwa Spannungskurven zu intensivieren oder den Sängern auf der Bühne gewisse rhythmische Freiheiten zu gewähren.

Nachdem nun der Bundesrat am Mittwoch beschlossen hat, auch für kulturelle Veranstaltungen nur noch fünfzig Personen zuzulassen, kann auch der Plan B dieser Produktion nicht mehr umgesetzt werden. Das Grand Théâtre stellt seinen Spielbetrieb per sofort ein. Die gleichentags gerade noch realisierte zweite Aufführung der «Sache Makropulos» war zugleich die Dernière. Finanziell ein Debakel – und ein Trauerspiel für die Kunst!

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