Eigentlich wollte die Opéra Comique mit Regisseurin Jeanne Candel und Dirigent Raphaël Pichon im November ihre Türen für die Saison öffnen. Doch statt die Premiere mit pandemiereguliertem Publikum tatsächlich im Salle Favart erlebbar zu machen, zwang der neuerliche Kultur-Lockdown dazu, die Eröffnung per Livestream zu realisieren. Passenderweise stand eine Tragédie dafür auf dem Programm, der selbstverständlich mit dem apotheosen Prinzip noch ein freundliches Ende vorbehalten ist: Rameaus erste Oper Hippolyte et Aricie, die 1733 für Wirbel sorgte und endgültig die Lager der konservativeren Lullystes und der revolutionäreren Ramistes konstituierte. Sie wird schließlich nicht von seiner unikalen Sprache der Kühnheit und des fantastischen Temperaments ausgenommen, die der französischen Musik einen kolossalen Wendepunkt aufdrückte. Der Komponist verschloss sich aber auch nicht der Kritik an seinem Erstling, so dass er ihn 1757 der Revision unterwarf, den Pellegrin'schen Prolog zu streichen, Szenen umzustellen, zu ergänzen und die Geschichte schlüssiger zu machen.

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Sylvie Brunet-Grupposo (Phèdre) und Séraphine Cotrez (Œnone)
© Stéfan Brion

Doch was heißt schon schlüssig? Diese von Pygmalion aufgespielte und weiteren Beschneidungen ausgesetzte letztere Fassung unternimmt den Versuch, das mythologische Hauen und Stechen rund um Racines Phèdre-Erzählung, also tödlich-amouröse Verwirrungen ganz eigener Art, darzustellen. Phaidra, Gattin des Theseus, liebt Stiefsohn Hippolyte, dieser jedoch der wohltuenden „Natürlichkeit“ im Absurditäten-Pfuhl zuträglich Aricie. Sie wird von Phaidra verbannt, die Mutter offenbart sich ihrem Sohn und möchte nach dessen Nein sterben. Theseus bleibt dieses Gefühlschaos nach der Rückkehr aus dem Hades nicht geheim und beauftragt Neptun, Hippolyte zu vernichten, weil er glaubt, der Spross wolle etwas von seiner Frau. Zum Glück weiß Jagdgöttin Diana als einzige Bescheid und rettet das genehme Liebespaar.

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Eugénie Lefebvre (Diane)
© Stéfan Brion

Die als avantgardistisch oder visionär angepriesene Arbeit Candels entpuppt sich dabei einerseits recht brav als Abbild der werklichen Kompromissfindung Rameaus, andererseits als die gleichfalls erwartbar zweckmäßige Regie unter Coronaumständen. So belibt die von Lisa Navarro entworfene Unterweltkulisse, bestehend aus bekanntem, kühlem Betongerüst mit Treppen und Aufzug, ab dem zweiten Akt das entscheidende Bühnenbild; zudem sind die Personenführungen (zusammen mit Lionel Gonzalez) klassisch gehalten, die Charaktere, jeder bis auf Diana natürlich mit seinen Schwierigkeiten, Makeln und Heldenzügen vorhersehbar beladen, festgezurrt und die mit Jagdgewehren bewaffneten, bezopften, sektenkultartigen Helferlein in weißen oder schwarzen Overalls meistens klar verteilt.

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Hippolyte et Aricie
© Stéfan Brion

Dass es manchmal allerdings nicht so eindeutig erscheint, liegt nicht am Nebel, der aus dem Orchester aufsteigt, um Hippolytes Tod zu beschatten, sondern beispielsweise am merkwürdigen Sparparadies, in dem das Pärchen festgehalten wird. Oder an den Rigaudons und Divertissements in den Reichen Neptuns und Dianas. Vor der Invocation des Meeresgotts feiern übergroße Pappmaché- oder Gipsköpfe visagierter Damen und Herren vorjahrhundertigen Stils samt ihrer Bademoden zusammen mit der durch Kartontüten-Gesichter verfremdeten Putzkolonne Plutos eine Party, zu der sich statt des Seeungeheuers ein überdimensionierter Stierkopf gesellt, der Theseus aufgesetzt wird. Soll das etwa der rächende Riesenkopf sein, den sich Mann und Vater bei dem Berg an unmenschlich kollusiven Konflikten macht? Nicht ganz so einfach abstrus, dafür aber überbrückend unheiter mutet die Chasse in den Gefilden der wachsamen Göttin an, deren Platz sich zum Ende in ein pathologisch-klinisches Entsagungszentrum verwandelt, in dem die transportierten Liebenden ihre Vereinigung ganz tugendlich verklärt unter der Decke begehen dürfen.

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Stéphane Degout (Thésée)
© Stéfan Brion

Die göttlichen Wasserträger und Reiniger stecken in gummistiefeliger Arbeitskluft, in der Unterwelt tragen die apathischen Parzen, der kernige, still-sadistische Vorarbeiter Tisiphone und der grausamer-graue Amtsleiter Pluto höllisch bürokratisch-uniformierte Anzugkombinationen. Die Sterblichen werden von Pauline Kieffer in adligen Renaissancezwirn gepackt, wobei Aricie zunächst als Do-it-yourself-Mama in spe auch im weißen Overall auf die Bühne kommt. Dass die im Liebessumpf eingehende Familie eben diese Gewänder zieren, mag in meiner Interpretierung an der Renaissance-Halskrause liegen, die Mühlstein genannt wird. Zum einen platzt sie gedanklich Stéphane Degout, Sylvie Brunet-Grupposo, Reinoud van Mechelen und Elsa Benoit vor Kummer und Elend, zum anderen haben sie ja eine zermürbende Last um die Kehle.

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Reinoud van Mechelen (Hippolyte) und Elsa Benoit (Aricie)
© Stéfan Brion

Van Mechelen behauptete sich dabei natürlich als heller, aufrechter, verteidigender Titel-Tenor, der sich geschmeidig und mit starken Lamentoausstößen durch sein Leiden zum Glück buddelte. Seine Geliebte befand sich mit Benoit auf paariger Augenhöhe, indem sie leuchtend und energisch viel Unheil aufziehen sah, mit sanfter timbriertem Sopran sich aber der tödlichen Ausweglosigkeit und dem letztlich zufriedenen Zusammenfinden hingab. Degout füllte die Rolle des laut ehre-, schuld- und verlustgeplagten Königs aus, dessen baritonale, widerspenstig leicht nasale Reichweite die Emotionen des Aufgebrachtseins und zwangsläufigen Scheiterns einfing. Und Brunets Mezzo zitterte sich in schmerzlicher Dauererschütterung Phaidras und sterbeaufrichtigen, stämmenden, schlamasseligen Reflexen zum Suizid in die unausweichliche Versenkung.

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Reinoud van Mechelen (Hippolyte), Elsa Benoit (Aricie) und Eugénie Lefebvre (Diane)
© Stéfan Brion

Deren abgrundtiefe Traurigkeit belegte Rameau mit dunkler Farbe, die Pygmalion genauso vital untermalte wie die harmonisch-ausreizenden naturalistischen Extreme für das krasse Unvorstellbare dieses Verwicklungstabus. Pichon hatte das Orchester mit jeweils vierfachem Holz (Flöten, Oboen, Fagotte) kräftig besetzt, so dass es mit den vielen Streichern dem Unwetter- und Wellen-Lärm zupackend begegnete. Das galante Ideal der Zuneigung und Zurückhaltung, illustriert mit Vogelgezwitscher, kam im wandelbaren Kontrast äußerst zärtlich daher. Sehr rasante Gewalten wechselten so mit schlanken Airs und das weiche, diktionsstarke, dynamisch ebenfalls vorzügliche Chorensemble erwies sich als eingängig-einfühlsamer Reflektierer wie tänzerischer Aufblender. Musikalisch („Quel bruit!“) ein sehnlich bestechender Rameau-Abend aus der sonst unheimlichen Stille von Paris.

Die Vorstellung wurde vom Livestream der Opéra Comique auf Arte rezensiert.

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