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Anklage mit Mozart – Die Oper Genf bietet „La Clemenza di Tito“ als politische Attacke. Foto: Screenshot aus der Aufführung
Anklage mit Mozart – Die Oper Genf bietet „La Clemenza di Tito“ als politische Attacke. Foto: Screenshot aus der Aufführung
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Anklage mit Mozart – „La Clemenza di Tito“ als politische Attacke an der Oper Genf

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Als Opernstadt hat bislang noch Zürich die Nase vorn. Doch unter Intendant Aviel Cahn will die Oper Genf künftig neben der Fülle von Weltorganisationen wie UNO, ILO, CERN, IKRK, WHO, IAO, IOM, ISO, IEC, ITU, WIPO, WMO, WOSM und WTO eine Rolle spielen. Dass einerseits hier 1920 der Völkerbund begann, andererseits heute das hinterfragenswerte internationale Bankengeschäft mit einem dubiosen „Freeport“ agiert, mag bei Cahns Engagement von Milo Rau an die Oper hereingespielt haben.

„Wenn für die Herrschaft… ein strenges Herz vonnöten ist, nehmt mir entweder die Herrschaft ab oder gebt mir ein anderes Herz. Wenn ich die Treue meiner Reiche nicht durch Liebe gewinnen kann, liegt mir nichts an der Treue, die eine Frucht der Angst ist“ – das singt 1791 ein absolut Mächtiger, der in der Liebe Unglück hat, den der engste Freund verrät, der dessen tödlichem Anschlag und dem Putsch in der Hauptstadt gerade noch lebendig entkommt – einer, der dennoch keine Todesurteile fällt, vielmehr allen verzeiht, weil er weiß, dass eben nur „geliebte“ Herrschaft künftig ergeben angenommen wird. Gegen alle Staatsräson siegen da Lebensweisheit und Humanität. Diese Arie im Schlussteil von Mozarts „La Clemenza di Tito“ entwirft eine faszinierende Utopie – speziell von 1982 an, der einer Wiederentdeckung des bis dahin minder geschätzten Werkes gleichkommenden Traum-Realisierung durch Karl-Ernst und Ursel Herrmann im Brüssel Gérard Mortiers (Übernahme 1992 zu den Salzburger Festspielen). Eine bis heute und gerade in unseren Tagen herausfordernde Utopie, weswegen schon in Brüssel der Tito-Sänger gleichsam aus dem Bühnenbild heraustrat, vor dem sich schließenden Vorhang an einem Rednerpult stand – und eine „Grundsatzrede“ an uns Demokraten hielt.

Mozarts „Tito“ ist also ein Werk mit einem hochpolitisch strahlenden Kern. Das mag für einen politisch ebenfalls hoch engagierten Regisseur wie Milo Rau die Brücke gewesen sein, über die er sich zu seiner ersten Opernregie locken ließ. Mit seinen bisherigen „freien“ und seit 2018 am belgischen Theater NTGent realisierten Werken greift Rau gezielt, herausfordernd bis provokativ ins reale Leben: von der Ceausescu-Hinrichtung über die Dutroux-Entsetzlichkeiten zum Ruanda-Völkermord, einem Kongo-Tribunal bis hin zum Film „Das neue Evangelium“, in dem ein farbiger Jesus für die Armen, Entrechteten und „Illegalen“ auf süditalienischen Gemüsefeldern eintritt. Zunehmend arbeitet Rau dabei mit Betroffenen, Zeitzeugen und gezielt auch Flüchtlingen zusammen.

Genau das ist für Rau auch Grundkonzept seiner „Tito“-Inszenierung. Von seinem Bühnenbildner Anton Lukas hat er hinter einem vorderen Spielstreifen in der Bühnenmitte eine kleine Drehbühne bauen lassen. Sie zeigt aus Raus Sicht die zwei Seiten unserer Welt: einen edlen, hellen Raum, der sich am Ende als Saal einer Vernissage mit gutbetuchten Kunstfreunden entpuppt. Auf der Kehrseite die düstere Realität eines „unserer“ Flüchtlingslager, also Notbehausungen aus Sperrgut, umherliegender Müll, eine brennende Öltonne, Schilder mit Protestparolen, ein Junge im Rollstuhl, fast durchweg Farbige – über allem ein (zu kleiner) Videoschirm. Und hier beginnt das Kernproblem der Aufführung. Mit Zustimmung des jungen Dirigenten Maxim Emelyanychev hat Rau Mozarts Werk drastisch zusammengestrichen: eigentlich wären da die gegen die siegreiche „Weisheit“ und „Milde“ wie ein Feuersturm wütenden erotisch-eifersüchtig-rachelüsternen Verwicklungen um Freund Sextus, die ambitioniert verführerische, emotional furiose Vitellia, das junge Liebespaar Annius-Servilia und der gesetzesfixierte Staatsrat Publio – ein Gutteil der Arien und ein Großteil der Rezitative waren ersetzt durch gesprochene oder auf dem Bildschirm eingeblendete biographische Erzählungen dieser „Wirtschaftsflüchtlinge“ oder Bedrohten, Gejagten und Gewaltopfer. Gleich am Anfang wird einem Theaterhandwerker das Herz herausgeschnitten und durch die zweieinhalbstündige Aufführung weitergereicht, bis es Tito zu seiner Arie in Händen hält. Davor war er - durch das Attentat tödlich verletzt – zu zwei Schamaninnen in ein notdürftiges Zelt gebracht und gerettet worden – zwar zeigt uns ein Video-Einspieler seine Waschversuche, aber er bleibt ein Rotlehm-verkrustetes Gesicht. Im Verlauf wurde auch die Erhängung zweier Dissidenten relativ bildgetreu vorgeführt, ohne dass die Parteiungen wirklich klar waren. Durchweg liefen Video-Kameraleute zur Live-Projektion durch die Szene und ihre eigenen Bilder. Dann hatte Rau seine 18 neuen Mitspieler auch einmal Géricaults „Floß der Verdammten“ nachstellen lassen, dann den halbtoten Tito als Davids „Tod des Marat“ arrangiert. Genau das stellte sich auch als Haupteindruck ein: die Spieler waren „arrangiert“ - in einem neuen Anklagestück angesichts unserer Welt – wie es der Science-fiction-Film „Elysium“ eindringlich vorstellt.

Raus Botschaft gipfelte im Vernissage-Ende mit dem Tod aller singenden Solisten vor einem Podest. Sie hatten noch das Schlusssextett singen dürfen, aber davor wurde auf dem Bildschirm eine kleine Geschichtsstunde von der Französischen Revolution bis zu Restauration projiziert. Zu den dystopischen Schlussbemerkungen und Fragen Milo Raus – etwa: wer wohl unsere fatale Geschichte erzählen wird - arrangierten sich die Unterdrückten dieser Erde um einen halbnackten Anführer zu Delacroixs „Die Freiheit führt das Volk“ – und einzig Vogelgezwitscher klang durch das finale Dunkel.

Ach ja, musiziert und gesungen wurde auch. Dirigent Emelyanychev führte das Orchestre de la Suisse Romande zu straffem, klar konturiertem Klang, doch Mozart wirkte degradiert zur guten Begleitmusik der szenischen Fülle. Die Solisten um den Tito-Tenor Bernhard Richter klangen alle sehr gut. Doch ihre von Mozart singulär gestaltete „Tour de Force“ durch wirklich alle Gefühlslagen war in diesem Opus reduziert auf kleine vokale Statusmeldungen. Sangesfreunde dürfen sich da nicht erinnern an die eben unvergesslichen musikdramatischen Vulkanausbrüche zwischen einer Julia Varady (Vitellia) und Brigitte Fassbaender (Sesto) – ab 1971 in einer allzu erlesen klassizistischen Inszenierung von Jean-Pierre Ponnelle.

Dahinter bleibt die Erregungskurve von Milo Raus Bearbeitung enttäuschend weit zurück. Wenn man – wie der Rezensent – nahezu alle Aspekte seiner dystopischen Weltsicht teilt, bleibt die Fundamentalkritik: das ist nicht Thema in Mozarts „Clemenza die Tito“. Da ließen sich mehrfach weit besser kritische Protestsongs einspielen und eben ein neues Stück kreieren. Und Rau selbst sollte selbstkritisch sehen, dass Personenregie einen unverzichtbaren Wert in der Neuinterpretation von Klassikern bildet – ein Anspruch, dem er nicht gerecht geworden ist. So bleibt eine Vermutung: Intendant Cahn und Rau wollen mit dem Klassiker locken – und dann dem Publikum der Finanzmetropole Genf eine Art Moralpredigt servieren. Intention ehrenwert – aber Mozart missbraucht.

 

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