Alban Bergs Wozzeck ist bekanntermaßen ein Sozialdrama, das bei aller Tragik des Stoffes (ein von seinen Vorgesetzten ausgenutzter Außenseiter verfällt dem Wahnsinn und ersticht die Mutter seines Kindes) dicht mit Pointen gewürzt ist, sodass Grausamkeit und Elend umso schärfer hervortreten. Nicht, dass Simon Stones Regiearbeit an der Wiener Staatsoper unwitzig wäre, aber man stelle sich weniger auf Tiefgang ein, sondern Klamotten à la Kaisermühlen Blues.

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Christian Gerhaher (Wozzeck)
© Wiener Staatsoper GmbH | Michael Pöhn

Die fünfzehn Wozzeck-Szenen haben Wiener Lokalkolorit und sind auf der Drehbühne gut aufgehoben. Der Hintergrund der Drehbühne ist anfangs glänzend weiß gefliest und erinnert an ein Spital, allerdings ist strahlendes Weiß nichts, was man gemeinhin mit dem doch recht patinierten Wien verbindet, oder mit einer Sozialwohnung (in der Marie eine sehr moderne Waschmaschine hat), oder mit den gerade trendigen Barbershops (so ein Balkan-Barbershop hätte sich für die erste Szene, in der Wozzeck den Hauptmann rasiert, angeboten).

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Dimitry Belosselskiy (Doktor), Christian Gerhaher (Wozzeck) und Jörg Schneider (Hauptmann)
© Wiener Staatsoper GmbH | Michael Pöhn

Diese Einheitskulisse von Bob Cousins ermöglicht allerdings einen raschen Szenenwechsel und macht insofern Sinn, als der gehetzte und geistig-seelisch zunehmend beeinträchtigte Wozzeck seine Umgebung wohl nicht mehr gänzlich wahrnimmt. Es macht für sein Befinden keinen Unterschied, ob er sich beim Arbeitsamt anstellt, mit dem Doktor und dem Hauptmann im Fitnessstudio auf dem Stepper schwitzt, eine Darmspiegelung bekommt (und dabei singt), in der U-Bahn-Station Simmering auf Obdachlose trifft oder in einem Mauskostüm zu einer Maskerade in der Wirtshausszene antritt. Es ist Marie, die für Wozzeck den Unterschied macht, und durch ihre Affäre mit dem Tambourmajor (es geht gleich neben dem Würstelstand zur Sache) sein Fass zum Überlaufen bringt.

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Christian Gerhaher (Wozzeck) und Anja Kampe (Marie)
© Wiener Staatsoper GmbH | Michael Pöhn

Man merkt: einiges passt mit dem Libretto nicht zusammen, und auch wenn man darüber hinwegsieht, ist manches an dieser Regiearbeit weder realitätsnah noch besonders stimmig (Fans von nackten Männerhintern werden aber den Wechsel von Unter- zu Badehose in der Fitnessstudio-Garderobe ohnehin nicht hinterfragen, auch wenn kein Pool in Sicht ist). Allerdings hat diese Inszenierung Tempo und trifft damit eine wichtige Eigenschaft dieses Werks vielleicht sogar besser als andere. Szenisch besonders gelungen ist der Ausstieg aus Wozzecks metaphorischem Hamsterrad: Wenn die Drehbühne zum Stillstand kommt und der grell ausgeleuchtete Fliesenhintergrund einer in warme Farben getauchten Naturszenerie mit hohem Gras weicht, ahnt man noch eine Möglichkeit der Gesundung der Gesellschaft (es geht ja nicht um Wozzeck allein). Doch das Drama nimmt unerbittlich seinen Lauf, bis hin zum Femizid an Marie. Deren Leiche lässt Wozzeck in dieser Inszenierung unter einem Kanaldeckel verschwinden, er selbst wird dort später auch sich und sein hoffnungsloses Leben entsorgen.

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Anja Kampe (Marie) und Sean Panikkar (Tambourmajor)
© Wiener Staatsoper GmbH | Michael Pöhn

Von Selbstmord steht zwar nichts im Libretto (das historische Vorbild wurde zur Volksbelustigung in Leipzig öffentlich geköpft), doch macht er Sinn, weil Femizid mit anschließendem Selbstmord des Täters leider ein höchst aktuelles Thema ist. Weniger nachvollziehen kann man die „Himmelfahrt“ Wozzecks, wenn seine Leiche an einem Brustgurt aus dem Kanal in die imaginäre Simmeringer Luft über der Staatsopernbühne gezogen wird. Über das finale „Hopp, hopp!“ des Wozzeck-Sprosses am vorderen Bühnenrand zu seinem Feuerwehrauto braucht man sich dan auch nicht zu wundern. Allerdings hätte das originalgetreue Davonreiten des Kindes auf einem Steckenpferd die schöne Idee, den Kinderchor in den Grasbüscheln der Mordszenerie zu verstecken, wesentlich effektvoller abgeschlossen.

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Christian Gerhaher (Wozzeck)
© Wiener Staatsoper GmbH | Michael Pöhn

In der Partie des Titel-Antihelden überzeugt Christian Gerhaher mit dem Feinsinn, den er aus seiner Lied-Erfahrung mitbringt. Sein Wozzeck kann nicht jung und dumm sein, vielmehr liegt der Fokus der Darstellung auf seinem vom Hauptmann kritisierten „Philosophieren“. Als Publikum sinniert man, ob man es hier vielleicht mit einem gewöhnlichen Verschwörungstheoretiker oder gar mit einem in den Wahnsinn gekippten Genie zu tun hat. Exzellent und stimmlich in Topform war auch Anja Kampe als Marie, die sich aus ihrer seelischen Vernachlässigung und Einsamkeit zu einem nicht unsympathischen „Weibsbild“ entwickelt.

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Christian Gerhaher (Wozzeck) und Anja Kampe (Marie)
© Wiener Staatsoper GmbH | Michael Pöhn

Bekanntermaßen ist diese Entwicklung der zweifelhafte Verdienst des Tambourmajors, dem Sean Panikkar (in Polizeiuniform) weniger mit tenoraler Durchschlagskraft, aber mit Stolz und Skrupellosigkeit darstellt. Letzteres kann man auch dem Duo infernal des Wozzeck, also dem Hauptmann und dem Doktor nachsagen. Mit Jörg Schneider und Dmitry Belosselsky sind diese Partien hervorragend besetzt. Erstaunlich insbesondere, wie der gebürtige Ukrainer das Idiom des Stücks punktgenau trifft, was man von der Deutschen Christina Bock (stimmlich immerhin tadellos) nicht behaupten kann. Überraschend blass blieben Josh Lovell als Andres und Thomas Ebenstein als Narr, während die Handwerksburschen (Peter Kellner und Stefan Astakhov) ihre kleinen Partien akzentuiert gestalteten.

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Christian Gerhaher (Wozzeck)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Staatsopernmusikdirektor Philippe Jordan ließ sich die Gelegenheit, Bergs Meisterwerk höchstpersönlich zu dirigieren, natürlich nicht entgehen, und dem Anspruch an so eine „Chefsache“ wurde er voll gerecht. In der richtigen Mischung aus üppigem Klang und klarer Struktur platziert er pointierte Kommentare zum Bühnengeschehen. Dabei beweisen das Staatsopernorchester mit seinen Solisten sowie den Bühnenmusiker einmal mehr, dass sie gerade bei schwierigen Aufgaben wie Wozzeck zur Höchstform auflaufen.

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