Frankfurt: „Elektra“, Richard Strauss

Im vergangenen Jahr war Sebastian Weigle etwas Unerhörtes gelungen: In seiner vorletzten Premiere als Generalmusikdirektor der Oper Frankfurt hatte er Elektra, eine der lautesten Opern des gängigen Repertoires, tatsächlich nach dem berühmten Diktum des Komponisten so dirigiert, als sei sie „von Mendelssohn: Elfenmusik.“ Klar, licht und leuchtend klang das, die allgegenwärtigen Tanzrhythmen erhielten eine Leichtigkeit, die gar auf den Rosenkavalier vorauswies. Nun hat sein Nachfolger Thomas Guggeis das Dirigat der ersten Wiederaufnahme übernommen. Auch er hat sich mit seinen 30 Lebensjahren bereits einen guten Ruf als Strauss-Dirigent erworben, seit er an der Staatsoper Berlin als kurzfristiger Einspringer die Premiere einer Salome gerettet hatte. Sein Zugriff ist weniger kulinarisch als analytisch. Das bekommt wiederum den leiseren und ausgedünnteren Stellen der Partitur besonders gut, die in äußerster Klarheit präsentiert werden. Diejenigen Passagen, die dem Werk seinen Ruf als womöglich radikalster Schöpfung von Strauss verschafft haben, werden nun stärker in ihrer Modernität betont, dürfen laut, roh, mitunter auch schrill klingen. Klangmassen erhalten eine unerbittliche Härte. Die Tanzrhythmen haben anders als bei Weigle nichts Beschwingtes, sondern erinnern an sarkastische Wendungen etwa bei Schostakowitsch. Einiges gelingt dadurch sogar schlüssiger als bei Weigle. Etwa die marschartige Auftrittsmusik der Klytämnestra, die in der Premiere bei gemächlichem Tempo recht harmlos klang, erhält unter Guggeis ihren manisch drängenden Charakter zurück.

Magdalena Hinterdobler (Chrysothemis), Kinderstatistin und Aile Asszonyi (Elektra)
© Barbara Aumüller

Dieser analytische Blick auf die Partitur paßt ausgezeichnet zum Regieansatz von Claus Guth. Er liest die Textvorlage Hugo von Hofmannsthals als von der zur Entstehungszeit neu aufgekommenen Psychoanalyse beeinflußt und verlegt die Handlung vom antiken Mykene in ein modernes Sanatorium. Zu sehen sind hier drei Frauen mit unbewältigten psychischen Problemen. Elektra als Extremfall ist gefangen in ihren Zwangsvorstellungen. Womöglich gab es den Mord an ihrem Vater Agamemnon als traumatisierendes Ereignis tatsächlich. Die Rückkehr des Bruders Orest als Rächer jedoch, womöglich sogar dessen Existenz, scheint eine Wahnvorstellung zu sein. Auch der Rachemord am Ende scheint nur in ihrem Kopf stattzufinden: Die Todesschreie ihrer Mutter und deren Stöhnen kommen aus Elektras Mund. Damit kontrastieren skurrile, oft surreale Balletteinlagen einer stummen Dienerschaft, die den tänzerischen Elementen der Partitur abgelauscht sind.

© Barbara Aumüller

Der Regisseur hatte mit Aile Asszonyi in der Titelpartie zur äußeren Beglaubigung minutiös mimische und gestische Ticks erarbeitet. Deswegen profitiert die Wiederaufnahme davon, daß Asszonyi erneut diese Rolle übernommen hat. Die estnische Sängerin hat sich seit der Frankfurter Premiere in kürzester Zeit zu einer der großen Hoffnungen im hochdramatischen Fach entwickelt. Kontinuierlich erobert sie sich neue Partien, von den Brünnhilden in Walküre, Siegfried und Götterdämmerung über Schostakowitschs Lady Macbeth bis zur Turandot. Warum das so ist, kann man in der aktuellen Wiederaufnahme überprüfen: Asszonyi verfügt über einen kraftvollen, geradezu üppigen Sopran, den sie ohne Ermüdungserscheinungen rückhaltlos auch durch extreme Lagen fluten lassen kann. Zugleich ist sie zu differenzierten Dynamikabstufungen fähig und versteht es, den Text durch gute Artikulation nicht in den Klangmassen untergehen zu lassen.

Ihr ebenbürtig ist das Frankfurter Ensemblemitglied Magdalena Hinterdobler, die neu als Chrysothemis zu erleben ist. Die Partie paßt wie angegossen zu ihrer vollmundigen, jugendlich blühenden Stimme. Neben seinen fulminanten Auftritten als Landgraf im Tannhäuser hat Andreas Bauer Kanabas offenbar noch Kapazitäten frei, um mit seinem dunkel getönten Baßbariton einen kraftvollen Orest zu orgeln. Erneut singt Susan Bullock die Klytämnestra mit gestalterischen Stärken und großer Bühnenpräsenz, aber auch mit der Schwäche fehlender Sonorität in der wichtigen Mittel- und Tiefenlage. Peter Marsh bewährt sich als Aegisth im Gewande Sigmund Freuds erneut mit seinem hellen Charaktertenor. Ganz ausgezeichnet ist die Riege der Mägde und sonstigen Dienerinnen aus dem Ensemble besetzt.

Susan Bullock (Klytämnestra) und Aile Asszonyi (Elektra) / © Barbara Aumüller

Die ausgefeilte Regiearbeit schnurrt in dieser Wiederaufnahme ohne Spannungsverlust im Vergleich zur Premiere ab und fügt sich mit der präzisen Ausleuchtung der Partitur durch den neuen Generalmusikdirektor zu einem intensiven Psychodrama aus einem Guß. Die an Souveränität ihre Premierenleistung übertreffende Aile Asszonyi in der Titelpartie, die starke Neubesetzung ihrer Geschwister mit Magdalena Hinterdobler und Andreas Bauer Kanabas und der neue Blick von Thomas Guggeis auf die Partitur machen diese Wiederaufnahmeserie auch für solche Besucher attraktiv, die sich im vergangenen Jahr bereits die Premiere angesehen haben.

Michael Demel, 12. Mai 2024


Elektra
Tragödie in einem Aufzug von Richard Strauss

Oper Frankfurt

Wiederaufnahme am 9. Mai 2024
Premiere am 19. März 2023

Inszenierung: Claus Guth
Musikalische Leitung: Thomas Guggeis
Frankfurter Opern- und Museumsorchester

Unsere Premierenkritik

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