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Bellinis „Nachtwandlerin“: Tränendünger fürs Opernbiotop

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Verstörtes Waisenkind: Amina (Ana Durlovski), hier mit ihrem Verlobten Elvino (Luciano Botelho).
Verstörtes Waisenkind: Amina (Ana Durlovski), hier mit ihrem Verlobten Elvino (Luciano Botelho). © A.T. Schaefer

München - Den Münchner Kammerspielen bescherte der Filigrantechniker hochgeachtete Inszenierungen, seit dieser Saison ist er Opernchef in Stuttgart. Jossi Wieler hat nun erstmals aus seiner neuen Position heraus Regie geführt. In das Ergebnis verliebt man sich auf den ersten Blick.

Altmodisch könnte man das nennen. In einer Zeit, in der allerorten diese smarten Manager in den Opernchefbüros sitzen. Auf effektiven Kunstausstoß sind sie gepolt, auf (Ko-)Produktionen, die sich kostensparend auf dem Markt verscherbeln lassen. Und dann kommt nun Stuttgart. Leistet sich die Heimholung eines freundlichen Schweizers, der dort schon Großes vollbracht hat und der am Neckar nun ein unverwechselbares Biotop anlegen soll.

Fast nur Inszenierungen aus der Werkstatt von Jossi Wieler und seines ewigen Opernmitregisseurs Sergio Morabito plus der Chefregisseurin Andrea Moses sollen dort laufen. Ein Stuttgarter Stil soll sich da etablieren, einmalig und ausstrahlungsmächtig. Eine Anstrengung gegen die Austauschbarkeit von Opernkunst. Auch eine Monokultur? Wer nach dieser „Nachtwandlerin“ selig das Haus verlässt, denkt nicht im Traum an solche Vorwürfe.

Mit einem anderen Bellini, mit „Norma“, bescherten Wieler/Morabito im Jahre 2002 Stuttgart und der Opernwelt eine der wichtigsten Belcanto-Inszenierungen überhaupt. Blickte man bei „Norma“ auf die (religiöse) Engstirnigkeit eines italienischen Dorfes, so passiert die Tragödie der „Nachtwandlerin“ nun im gedrungenen, (be-)lastenden Kellergewölbe eines Gasthofes mit Riesenschränken und massiven Bierbänken – derart eindeutig war Ausstatterin Anna Viebrock selten.

So niedrig wie die Decke hängt auch der Horizont dieser Dörfler. Waisenkind Amina leidet weniger an nächtlichen Touren, sondern die Gesellschaft an ihr: Ein Sonderling ist sie, verdruckst, in den Augen der anderen zurückgeblieben und doch übervoll von unerweckter Liebe. Von Ziehmutter Teresa zurechtgeputzt, darf sie vor der Verlobung mit Macho-Bürschlein Elvino ihre Arie singen. Doch ihr Interesse weckt plötzlich ein Fremder, der unerkannte und verschollene Rodolfo, Sohn des alten Grafen. Ob Amina mit vollem oder getrübtem Bewusstsein Rodolfo auf seinem Klappbettsofa heimsucht, lassen Wieler/Morabito listig offen. Der darob verschüttete Rotwein, so der Regie-Einfall, dient allen jedenfalls als Indiz. Die Jungfräulichkeit, man sehe doch nur das befleckte Laken, ist perdu.

Ein grauenhaftes Missverständnis. Doch selten darüber so gelacht. Nie schmeckt diese gescheiterte Kleinbürgerhochzeit bei Wieler/Morabito nach Denunzierung. Skurril sind all diese Typen, gelebte Karikaturen. Was man amüsiert und berührt verfolgt, ist eine dreistündige Charmeoffensive. Humor mit Träne. Liebevoll, aus tiefstem Wissen um menschliche Abgründe und Unzulänglichkeiten heraus gestaltet, dabei so detailwütig, dass man dem hintersten Sänger des wunderbaren Chores einen Solo-Vertrag auf die Bühne reichen möchte.

Unzählige Mini-Pointen sind zu beobachten. Der erste Auftritt Elvinos, vom Chor lautstark begrüßt und dabei minutenlang verdeckt, gemahnt an Wagners „Lohengrin“. Die Fassungslosigkeit von Elvinos früherer Braut Lisa bei seinem Werbegesang, überhaupt ihr derbes Auftreten: Diese Wirtin, so suggerieren Wieler/Morabito, hat sich nicht nur Elvino, sondern das halbe Dorf gegönnt – was Catriona Smith mit unerschrockenem, scharf umrissenen Gesang noch unterstreicht. Helene Schneiderman ist als Teresa eine Erni-Singerl-Wiedergängerin und füllt dabei die Bühne, als habe sie drei Arien zur Verfügung – dabei sind es nur drei Solo-Stellen. Liang Li gibt den Rodolfo mit Testosteron-Bass. Und dass Luciano Botelho der Elvino zwei Nummern zu groß ist, könnte als Extra-Gag durchgehen, ist aber eine Besetzungspanne. Verbesserungswürdig auch das Dirigat: Gabriele Ferro, früherer Stuttgarter GMD, ist weniger auf Humtata aus, eher auf Bellini mit Trauerflor und produziert dabei einige Koordinationspannen.

Mit Ana Durlovski in der Titelpartie bietet Stuttgart ein kostbares Eigengewächs auf. Eine vokale Cousine der Netrebko, mit dunkler Sopran-Tinta, flirrend-schnellem Vibrato und einem Gestaltungsstil, der sich die Partie nicht erobert, sondern sie bescheiden, in großer Empfindsamkeit auslebt. Die Brilliernummer „Ah! Non giunge“ ist nur finales, ungläubiges Aufbäumen. Längst ist der Abend da in die Tragödie abgebogen: Dieser Zweisamkeit von Amina und Elvino gibt keiner eine Zukunft, selbst wenn die Dörfler an den Biertischen „alles auf Anfang“ heucheln – und Rodolfo im Angesicht einer Erscheinung tödlich zusammengesackt ist. Denn ein wandelndes Gespenst existiert bei Wieler/Morabito tatsächlich: Ob Aminas rächende, untote Mutter oder nicht, das wird nicht geklärt. Vielleicht, auf dass man sich diese mit Ovationen gefeierte Aufführung immer wieder anschaue.

Von Markus Thiel

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