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  4. Freiheit für Kirill Serebrennikow: Wie stark Oper sein kann, zeigt Stuttgarts „Hänsel und Gretel“

Bühne und Konzert Oper macht Politik

Free Kirill!

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Gretel und die Knusper-Hexe: Esther Dierker trägt ein "Free Kirill"-T-Shirt, dass man bei der Stuttgarter Oper für fünf Euro kaufen kann, Daniel Kluges Hexe findets gut Gretel und die Knusper-Hexe: Esther Dierker trägt ein "Free Kirill"-T-Shirt, dass man bei der Stuttgarter Oper für fünf Euro kaufen kann, Daniel Kluges Hexe findets gut
Gretel und die Knusper-Hexe: Esther Dierker trägt ein "Free Kirill"-T-Shirt, dass man bei der Stuttgarter Oper für fünf Euro kaufen kann, Daniel Kluges Hexe findets gut
Quelle: dpa
Ohne Hexe und ohne den unter Hausarrest stehenden russischen Regisseur: Stuttgarts Oper zeigt unvollendet „Hänsel und Gretel“ als Fragment und Fanal für die Kunstfreiheit und für Kirill Serebrennikow.

Angela Merkel ließ sich entschuldigen. Sie war nicht in die Stuttgarter Oper gekommen. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der anwesend war in der Premiere, hatte sie eingeladen. Um so Solidarität mit dem russischen Regisseur Kirill Serebrennikow zu demonstrieren, der seit dem 23. August unter Hausarrest steht.

Der Arrest war am vergangenen Donnerstag noch einmal bestätigt und verlängert worden. Weswegen Serebrennikow seine Inszenierung von Engelbert Humperdincks Märchenmusiktheater „Hänsel und Gretel“ nicht vollenden, ja nicht einmal probieren konnte.

Wir wissen nicht, ob die deutsche Kanzlerin diesen Regisseur kannte, bevor er zu einem „Fall“ wurde. Was schon im Mai nach einer Hausdurchsuchung wegen Unterschlagungsvorwürfen geschah, wo er aber noch als „Zeuge“ galt. Er hat schließlich bisher nichts von Richard Wagner inszeniert.

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Man weiß auch nicht, das wurde schon mittags in Stuttgart auf einer Podiumsdiskussion von russischen Theaterschaffenden betont, ob ihr Amtskollege Wladimir Putin ihn überhaupt kennt, ob er hinter dieser gleichermaßen surreal wie erschreckend anmutenden Justizfarce steht, die natürlich nur der Einschüchterung dient: der Zensur von Kunst wie der Zensur im Kopf. Denn beinahe jeder in diesem Milieu könnte der Nächste sein. Das liegt in der Perfidie dieses Systems.

Keiner also vermag zu beurteilen, ob dieser jüdische, schwule Künstler, der höchst maßvoll Systemkritik übte, der international mit seinen Theater- wie Operninszenierungen sowie im Kino gefragt ist, der mit seinem antikirchlichen Film „The Student“ 2016 in Cannes einen Preis gewann, jetzt ein von ganz oben gefordertes oder nur durchgewunkenes Bauernopfer ist.

Weil in Russland bald Wahlen anstehen und die Künstler im Zaum gehalten werden sollen. Das Böse, es sagt sich dort nicht, so wie Gurnemanz dem reinen Toren Parsifal das Geheimnis des Grals nicht erklären kann.

Vor dem Stuttgarter Opernhaus durfte er stehen, wegen des gegen ihn ausgesprochenen Hausarrests drinnen aber nicht arbeiten: der russische Regisseur Kirill Serebrennikow
Vor dem Stuttgarter Opernhaus durfte er stehen, wegen des gegen ihn ausgesprochenen Hausarrests drinnen aber nicht arbeiten: der russische Regisseur Kirill Serebrennikow
Quelle: dpa

Jedenfalls war Serebrennikow mit seinem liberalen Gogol Center in Moskau den bremsenden Betonkopfapparatschiks aus Geheimnisdienst und orthodoxer Kirche schon lange im Weg. So wie auch der jetzt nach vielen Querelen und Anschlägen endlich in Moskau uraufgeführte Film „Mathilda“ von Alexei Utschitel mit Lars Eidinger und Thomas Ostermeier über den zaristischen „Märtyrer“ Nikolaus II. und seine historisch belegte voreheliche Affäre mit einer Startänzerin.

Die Spur führt also immer wieder nach Deutschland. Serebrennikow gastierte an der Berliner Schaubühne, inszenierte zweimal an der Komischen Oper und bisher einmal in Stuttgart. Auch mit dem Deutschen Theater hat er einen Vertrag.

Hier geht es um die Freiheit des Denkens

Die deutsch-russischen Kunstkontakte sind glücklicherweise wieder eng. Und so ist, was jetzt in Russland als „Hausarrest“ abgeht, ganz abgesehen von den strafrechtlichen Konsequenzen, ein striktes Berufsverbot. Was im liberalen Deutschland nicht unwidersprochen bleiben kann, was man deshalb auch in Stuttgart so nicht stehen lassen wollte und konnte. Schließlich geht es hier nicht nur um eine gefährdete Premiere mit zehn Folgevorstellungen, sondern um die gefährdete Freiheit des Denkens.

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Und so hat Intendant Jossi Wieler ein sich über den ganzen Oktober ziehendes unfreiwilliges Antifestival pro Serebrennikow aus dem Bühnenbretterboden gestampft. Mit Video-Aufführung der hauseigenen „Salome“-Inszenierung, Vorträgen, Filmen, Aufzeichnungen anderer Arbeiten und Diskussionen. Mit „Free Kirill“-Shirts zu fünf Euro und Herztaschen vom Teilspielort Ruanda für sechs Euro. Gipfelnd in der langstreckenweise filmisch nach Afrika verlegten Humperdinck-Premiere.

So viel Aufmerksamkeit um eine Nichtinszenierung war also selten. Die Russen haben mit ihrer Strafrechtswillkür doch noch ganze Arbeit geleistet. Denn jetzt kennen den Namen Kirill Serebrennikow sehr viel mehr Menschen. Ist er vielleicht auch schon ein Märtyrer?

Immer wieder blendet die Stuttgarter Inszenierung nach Ruanda: Esther Dierker ist Gretel
Immer wieder blendet die Stuttgarter Inszenierung nach Ruanda: Esther Dierker ist Gretel
Quelle: dpa

In Stuttgart, wo auch seine streitbar und nicht unbedingt sinnfällig nach Syrien verlegte „Salome“ etwas überschätzt wird, ist er nun zumindest ein Hausheiliger. Jedenfalls erhoben sich zum guten, wenngleich schon stückimmanent schal schmeckenden „Hänsel und Gretel“-Ende die sentimentalen Schwaben im Opernhaus, um zwei angereisten schwarzen, möglicherweise echt armen Kindern aus Afrika als filmischen Hauptdarstellern zuzujubeln – als ein letztes Nachwehen der 2015er Willkommenskultur.

„Es sieht hier überall aus wie eine schlechte Kopie von Europa. Ist es arm genug für ‚Hänsel und Gretel‘?“ So zweifelt Kirill Serebrennikow in einer am 19. November gezeigten SWR-Dokumentation der Dreharbeiten in Ruanda an seinem Tun. Wir wissen nicht, ob er es bis zur Premiere so stehen gelassen hätte. Deshalb aber gibt es überhaupt eine.

Weil er die Grimm-Fabel aus dem deutschen Märchenwald ins Elefantengras verlegen, echten Hunger suchen wollte, wo auf deutschen Bühnen selbst die Weihnachtsopernpremiere gern mit ADS-Kindern, Substanzen schluckenden Subproletariern und Hexen als konsumgeile Supermarktmegären konzeptuell überfrachtet wird. Bei ihm freilich ist es nicht anders.

Religionskritik „Der die Zeichen liest“

Benjamin lehnt Sexualkunde ab und zitiert ständig die Bibel. Der Film des russischen Independent-Regisseurs Kirill Serebrennikov fußt auf dem Theaterstück „Märtyrer“ und endet schließlich erschreckend.

Quelle: Neue Visionen Filmverleih

Über dem auf der Bühne sitzenden und unter Georg Fritzsch angemessen prächtig aufspielenden Orchester flimmern so poetische wie klischeesatte Arme-Leut’-Filmbilder aus Afrika. Nach einem englischen Abendsegen, der ein wenig mit Voodoo- wie Völkermord-Erinnerungszauber operiert, geht es nach der Pause direkt zur schwarzen Taumännchen-Putze auf dem Stuttgarter Flughafen und von dort in die schwäbische Konditoreien-, Candy-Store- und Sportgeschäftüberfülle.

Die Hexe aber, das Märchenböse, es sagt sich und zeigt sich wieder nicht. Serebrennikow hat hier bewusst eine optische Leerstelle gelassen. Wenn im ersten Teil von der Besen reitenden Alten die Rede ist, wird deshalb ersatzweise auf uns alle, das Publikum kamerageschwenkt. Im zweiten Teil darf der sich ordentlich ins Travestiezeug legende Tenor Daniel Kluge semiprivat im Heavy-Metal-Band-Fanshirt die Rosina Leckermaul mimen.

Vielleicht folgt ja noch eine richtige Inszenierung

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Hier und an vielen anderen nur gut gemeinten Stellen fehlt schmerzlich ein Profiregisseur, er kann durch noch so viel guten Dramaturgenwillen nicht ersetzt werden und gerät nicht selten zum bemühten, auch noch zeigefingernden Laientheater. Das beginnt schon beim „Es war einmal“-Auftakt. Schon da gerät dieses aus der Solidarnot geborene Ersatz-„Märchen von Hoffnung und Not, erzählt von Kirill Serebrennikow“ – dem hoffentlich irgendwann doch noch die richtige Inszenierung nachfolgt – ins Schlingern.

Immer wieder müssen hier eben nicht nur Inszenierungsteile mühsam zusammengebosselt werden. Man will auch noch mit pantomimischen Momenten für das wirklich Geschehene aufrütteln. Etwa wenn die Eltern, die plötzlich im Wald auftauchen, maskiert sind wie die Polizeischergen in Moskau und St. Petersburg. Das stülpt diesen von ihrem Schöpfer verlassenen Resten ein Bedeutungsgewicht über, das sie künstlerisch erdrückt.

Dazu kommt noch das schlechte Kolonistengewissen, ob hier nicht im ehemaligen Deutsch-Ostafrika schon wieder Eingeborene im Namen der Kunstgutmenschen missbraucht werden, und was mit diesen zwei Kindern eigentlich passieren wird, wenn sie nach so viel naiv betroffenem Ersatzbejubeltwerden nun ein zweites Mal wieder zurück in Kigali landen …

Wenigstens virtuell war Kirill Serebrennikow anwesend. Von einem guten Ende kann aber noch lange nicht die Rede sein
Wenigstens virtuell war Kirill Serebrennikow anwesend. Von einem guten Ende kann aber noch lange nicht die Rede sein
Quelle: dpa

Ein seltsamer, solitärer Abend, getragen von einem hoch motivierten Ensemble, aus dem Esther Dierkes zartfrische Gretel nicht nur wegen ihres „Free Kirill“-Shirts heraussticht. Der einen immer wieder dankbar werden lässt über das, was im Guten wie Schlechten, Kritischen wie Kulinarischen, Konzeptuellen und Konservativen auf deutschen Bühnen doch alles möglich ist, das wir für selbstverständlich erachten in seiner maximal toleranten Kunstfreiheit, selbst wenn die AfD geifert.

Und der dann doch schrecklich banal mit „Erlöst, befreit für alle Zeit“ und einem grinsehopsenden Kirchentagskinderchor endet, während auf der Leinwand die Masken fallen. Der Verschwundenen, Ermordeten? In Afrika ist Party. In Stuttgart feiert man sich selbst.

Und Kirill Serebrennikow, der nicht reden darf? Der hat in der Doku, bevor er nach Moskau („Schwierigkeiten“) zurück musste, orakelt: „Nichts ist sicher für heute, jeder Tag könnte der letzte sein. Wir müssen alle unseren Weg in und durch den Wald finden.“ Das Moskauer Bolschoi Theater hat inzwischen sein im Juli drei Tage vor der Uraufführung abgesagtes „Nurejew“-Ballett für den 9. Dezember angekündigt …

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