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David und Ariane

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Szenenbild von "Hänsel und Gretel" in Stuttgart: Oben die Leinwand mit dem Film aus Ruanda, unten Orchester und Ensemble, hier Diana Haller (l., Hänsel) und Esther Dierkes (r., Gretel).
Szenenbild von "Hänsel und Gretel" in Stuttgart: Oben die Leinwand mit dem Film aus Ruanda, unten Orchester und Ensemble, hier Diana Haller (l., Hänsel) und Esther Dierkes (r., Gretel). © dpa

Kirill Serebrennikov hatte mit "Hänsel und Gretel" große Pläne. Davon ist jetzt nicht viel zu sehen.

Eine im Ergebnis dann doch zwiespältige Geschichte. Die Oper Stuttgart macht sich nach den Möglichkeiten eines großen Hauses und unbedingt zu Recht für ihren Regisseur Kirill Serebrennikov stark. Der Betrugsvorwurf gegen ihn ist zu durchsichtig, um dahinter nicht die Absicht der Mundtotmachung zu sehen. Kürzlich erst verwehrte ein Moskauer Gericht es dem Theater- und Filmemacher erneut, den Hausarrest wenigstens für ein paar Tage zu verlassen, um seiner Arbeit nachzugehen.

In Stuttgart war es die Inszenierung von Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“, die er nicht fertigstellen konnte. Über Wochen machte die Oper mit Veranstaltungen darauf aufmerksam. Am Premierenabend, der also kein normaler Premierenabend sein konnte, hing ein „Free Kirill“-Banner an der Fassade, entsprechende T-Shirt-Aufdrucke vor und auf der Bühne.

„Hänsel und Gretel“: Serebrennikov verfolgte den kühnen Plan, einen Stummfilm mit Musik zu zeigen. Für den Stummfilm wurde in Ruanda und Stuttgart gedreht, die Idee: Eine Geschichte, in der es um Hunger geht, unter Menschen spielen zu lassen, die wissen, was das ist. In einer Dokumentation über die Arbeiten sieht man, wie die jugendlichen Darsteller Ariane Gatesi (14) und David Niyomugabo (13) in Kigali wohnen. Man kann nachvollziehen, was Serebrennikov vorschwebt, der zu Protokoll gibt: Das Schlimmste, was er sich vorstellen könne, seien dicke Sänger, die von Hunger singen.

Die Dreharbeiten offenbaren auch Ambivalenzen – das katastrophale soziale Gefälle und die damit automatisch einhergehende Abhängigkeit, mögliche Verwirrungen der Kinder, die bei Serebrennikov vom Sandmann nach Stuttgart gezaubert werden und das Material des Hexenhäuschens in der Konditorei vorfinden. Die (hinreißenden) Darsteller wissen nicht einmal, was eine Oper ist. Das gehört zum Konzept. Heikel, aber spannend.

Nun aber: Ohne zu wissen, worauf es hinausgelaufen wäre, hätte Serebrennikov noch die Hand anlegen können, wird man den Eindruck nicht los, dass es garantiert, hoffentlich weit von dem entfernt gewesen wäre, was jetzt gezeigt wird. Jetzt wird das Filmmaterial aus Ruanda und Deutschland gezeigt, unter der Leinwand ist das Orchester auf der Bühne platziert und davor bietet das (absolut fabelhafte) Sängerensemble in Zivilkleidung (Gretel im „Free Kirill“-Shirt) eine konzertante Aufführung inklusive Besen, Rauchmaschine und Lebkuchenimitaten.

Dass die Aufmerksamkeit auf diese Weise fast permanent von den Leinwandbildern weggelockt wird – obwohl die Sänger so tun, als seien sie Zuschauer des Films, aber dann reißt es sie wieder weg –, grenzt versehentlich ans Zynische. Die Afrikaner werden zu stummem, teils rätselhaftem Beiwerk, die Wirkung dürfte dabei das Gegenteil dessen sein, was Serebrennikov vorschwebte. Ist man hingegen entschlossen, sich auf die Leinwand zu konzentrieren und die unten vergnüglich und ganz konventionell in „Hänsel und Gretel“-Manier herumzappelnden Profis zu ignorieren, merkt man, wie halbgar das Filmmaterial ist. Löst es sich einmal von der unerwartet schlecht mit der Musik in Einklang gebrachten, aber in sich munter erzählten Handlung, sollen zum Beispiel Fotografien und Gesichter vermutlich an den Völkermord an den Tutsi erinnern. Dann aber muss man sich schon fragen, warum dieselben Bilder wieder auftauchen, wenn die Hexe verbrannt und die Märchenkinder erlöst sind.

Der Hinweis, dass Serebrennikov die Möglichkeit bekommen soll, an der Inszenierung weiterzuarbeiten, sobald er frei ist, ist fair. Aber der Abend markiert seine Unfertigkeit eigentlich nicht, lediglich seine Hilflosigkeit. Außermusikalische Einsprengsel betonen das nur.

Musikalisch ist es eine grandiose Konzertgala: Diana Haller und Esther Dierkes als Hänsel und Gretel mit wunderbar zusammenarbeitenden fülligen Honigstimmen, die Eltern, Irmgard Vilsmaier und Michael Ebbecke, in wagnerischem, aber nicht grobem Format. Daniel Kluge bekam als Knusperhexe (und Luft-, nein Besengitarrist) Szenenapplaus für seine „Hurr hopp hopp hopp“-Arie, die er durchaus heldenternormäßig anlegt, mit strahlender Wucht und doch auch mit Witz. Das Orchester unter der Leitung von Georg Fritzsch ist exzellent, transparent und leistet sanften Widerstand gegen eine allzu süffige Opulenz, der Kinderchor (Christoph Heil) ist zum Weinen fein und schön, wie es sich gehört.

Das Publikum klatschte sich die Seele aus dem Leib, und unerwartet kamen noch Hänsel und Gretel, David und Ariane aus Ruanda, dazu, vergnügt und sichtlich verblüfft über den Jubel, der ihnen entgegenschlug.

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