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Ralitsa Talinova als Alcina vor der Kamera. Foto: Claudia Scheer van Erp
Ralitsa Talinova als Alcina vor der Kamera. Foto: Claudia Scheer van Erp
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Virtuell in der Oper: Das Theater Wuppertal wagt ein Experiment mit Francesca Caccinis „La liberazione di Ruggiero dall’isola d’Alcina“

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Es ist schon erstaunlich: Seit langen Jahren kreisen Diskussionen und Forschungen in Kulturszene und Kulturwissenschaften immer wieder um die Gender-Frage. Doch Francesca Caccinis Oper „La liberazione di Ruggiero dall’isola d’Alcina“ – soweit bekannt, die erste von einer Frau komponierte Oper – bringt kein Theater auf die Bühne. Fast keines, muss man sagen, denn die Wuppertaler Oper hat jetzt einen Versuch gemacht. Aber sie verschiebt den Fokus des Stückes und versteht „liberazione“ (Befreiung) als Lizenz zur Digitalisierung.

Aber der Reihe nach: Francesca Caccini, 1587 in Florenz geboren und um 1641 herum in ihrer Heimatstadt verstorben, war die Tochter des bekannten Opern-Komponisten Giulio Caccini. Sie sang zunächst in dem vom ihrem Vater geleiteten Vokalensemble „Le donne di Giulio Romano“. Bei einer Konzertreise der Familie Caccini nach Paris bot König Heinrich II. der gerade einmal 17-Jährigen ein Engagement an seinem Hof an, doch die in Florenz herrschende Medici-Familie wollte sie nicht freigeben und behielt sie in der Hofkapelle. Sie entwickelte sich zu einer anerkannten Sängerin, Lautenistin, Musiklehrerin und Komponistin und schrieb außer „La Liberazione“ mindestens 17 weitere, leider verlorene Bühnenwerke, das erste davon in Vertretung ihres Vaters. Künstlerisch war sie so erfolgreich, dass ihr erster Ehemann, selbst Musiker in der Florentiner Hofkapelle, sie testamentarisch zur Alleinerbin einsetzte – mit der Begründung, sie habe mehr zum Haushaltseinkommen beigetragen als er selbst. Als unterdrückte Frau kann man sie kaum bezeichnen. Die Zeitgenossen haben sie respektiert, erst die Nachwelt hat sie vergessen und verdrängt.

Der musikgeschichtliche Zusammenhang

Den Kompositionsauftrag für „La Liberazione“ erhielt Francesca Caccini von Erzherzogin Maria Magdalena von Österreich, die für ihren noch unmündigen Sohn Ferdinando in Florenz die Regentschaft führte. Anlass war der Besuch des polnischen Kronprinzen Władysław IV. Wasa von Polen, den Maria für eine dynastische Verbindung und den gemeinsamen Kampf gegen Protestantismus und Islam gewinnen wollte. Uraufgeführt wurde die Oper 1625 in der Villa Poggio Imperiale, dem gerade fertiggestellten Landsitz der Erzherzogin, dessen Repräsentationsräume nicht von ungefähr mit Szenen aus dem Leben bedeutender Frauen aus Antike und Christentum ausgestaltet waren. Eine Heirat zwischen den Familien Wasa und Medici brachte Maria Magdalena zwar nicht zustande, aber die Oper gefiel dem Kronprinzen Władysław so gut, dass er sie drei Jahre später in Warschau noch einmal aufführen ließ.

Die Handlung ist Ludovico Ariostos Epos „Orlando furioso“ entnommen, das seinerzeit zum allgemeinen Bildungsgut gehörte. Es spielt zur Zeit Karls des Großen, kreist um die fränkischen Versuche der Rückeroberung Spaniens von den Mauren und schmückt die in Wirklichkeit erfolglose Feldzüge mit sagen- und märchenhaften Erzählungen aus. Das Opernlibretto, das die Komponistin zusammen mit dem Florentiner Hofpoeten Ferdinando Saracinelli verfasste, bezieht sich wie viele spätere Werke (u.a. Händels „Alcina“) auf die Ruggiero-Episode. Die verführerische „böse“ Zauberin Alcina lockt attraktive Ritter und Edle auf ihre idyllische Insel, lullt sie mit ihren Zauberkünsten ein und verführt sie. Wenn sie ihrer überdrüssig ist, verwandelt sie sie in wilde Tiere, Pflanzen oder Steine. Das jüngste Opfer ihrer Zuneigung ist der Ritter Ruggiero, der das „dolce vita“ auf der Insel genießt, statt den Feldzug seines Kaisers voranzubringen. Der „guten“ Zauberin Melissa gelingt es, auf die Insel vorzudringen, Ruggerio zu befreien und Alcinas Zauberwelt zu zerstören.

Nach ihrem erfolgreichen Einstieg in die vergangene Spielzeit mit einer beachtlichen Produktion von Steve Reichs Videooper „Three Tales“ hat es die Wuppertaler Oper offensichtlich gereizt, das Publikum wieder auf die Opernbühne zu platzieren und Benjamin David und Anna Brunnlechner vom Musiktheaterkollektiv "Agora" als Regisseuren den medientechnischen Zugang weiterzuentwickeln. Und so erfahren wir auf der Homepage, dass jeder Zuschauer ein Smartphone oder ein Tablet braucht, um die Handlung zu verfolgen. Als Nichtbesitzer frage ich irritiert in der Pressestelle nach, ob man die Vorstellung auch ohne diese Geräte besuchen könne, und werde auf das freundliche Angebot eines Leihtablets verwiesen. (Das Angebot fand sich dann etwas versteckt im „Opernblog“ des Theaters.) Es sei auch möglich, erfahre ich, „den Abend ganz ohne Handy oder Tablet zu genießen, da die Unmittelbarkeit des Musikerlebnisses im Vordergrund steht.“ Auf meine Nachfrage, ob man mit den technischen Voraussetzungen nicht eine neue Form von Exklusivität schaffe, verweist Jelena Löckner auf die Premiere: „Unserer bisherigen Erfahrung nach sorgt das zwar schon für eine gewisse Vorselektion des Publikums, allerdings nicht entlang der sonst antizipierten Kategorien wie dem Alter. Besonders ältere Zuschauer haben sich als zum Teil sehr offen erwiesen und haben gern auch Gebrauch von Leihgeräten gemacht oder zu zweit ein Gerät genutzt.“

Mit dem Tablet unterwegs

Zusammen mit meiner Ehefrau entscheide ich mich für die letztere Variante. Gegen einen Personalausweis als Pfand erhalten wir ein vorbereitetes Tablet und brauchen das Programm nicht selbst zu laden. Für letzteres gibt es eine schriftliche Anweisung und ein ziemlich witziges Video, in dem eine junge Frau als Zeitreisende aus dem Barock das Publikum nach Art einer Flugzeugstewardess begrüßt und einführt. „Unser“ Tablet aber spricht nur französisch mit uns; später verstehe ich, warum. Die Anwendung VogoSport stammt von einer Firma aus dem französischen Montpellier. Die dort entwickelte Technik soll es erlauben, in Stadien oder Hallen zwischen verschiedenen Kameraperspektiven zu wechseln und Wiederholungen oder Zeitlupen anzuschauen. Was kann sie im Theater leisten? Auf dem Theaterblog heißt es: „Der Zuhörer wird eingeladen, seine Komfortzone zu verlassen und das persönliche Theatererlebnis mitzugestalten.“ Bei unserem Versuch, die deutsche Übersetzung zu finden, stürzt das Programm ab, wird aber von einer der vielen freundlichen technischen Helferinnen und Helfer in einen brauchbaren Zustand zurückversetzt. An Unterstützung fehlt es hier wirklich nicht; auch an Aufladekabel hat das Opernhaus gedacht. Wir sehen dann: Die Anwendung auf dem Tablet beinhaltet im wesentlichen das Programmheft, die – wie sich später zeigt – etwas sparsame Übertitelung des italienischen Originaltextes und verschiedene Videokanäle, die es erlauben, jeweils eine der drei Hauptfiguren Ruggiero (Simon Stricker), Alcina (Ralitsa Ralinova) und Melissa (Joyce Tripiciano) in den Blick zu nehmen.

Nach dem Einlass im oberen Foyer gelangen wir in den Zuschauerraum. Im hinteren Bühnenbereich sitzt in kleiner Besetzung das Sinfonieorchester Wuppertal. Im – textlich modifizierten – Prolog laden die Sänger Sangmin Jeon (Neptun) und Mark Bowman-Hester (Vistula, d.h. Allegorie der Weichsel – des polnischen Kronprinzen wegen) das Publikum ein, über eine vorbereitete Rampe auf die Bühne zu kommen. Dort gähnt zwischen Orchester und Zuschauerraum ein Abgrund. Das abgesenkte Bühnenelement ist durch schwarze Wände und Segmente eingeteilt und wird alsbald bevölkert durch Darsteller, die sich eilig in den Gängen und Nischen dieses Labyrinths verteilen. Sie sind meist dunkel kostümiert, zum Teil scheinen sie schwarze Federn zu tragen. Von Alcinas Zauberinsel sehen wir also nicht die freundliche Schau-, sondern nur die schwarze Nachtseite. Anziehend wirkt hier auf den ersten Blick rein gar nichts – außer vielleicht die eigene Neugier auf das technische Arrangement. Eine Gesamtschau gibt es nicht, erst recht nicht, nachdem die sorgfältig per weiße Demarkationslinie abgegrenzte Bühne hochgefahren ist. Ab und zu laufen Darsteller hektisch vorüber. Aus der Übertitelung lässt sich in etwa schließen, wer mit wem unterwegs ist. Auf ihren jeweiligen Kanälen wirken die Hauptfiguren oft so, als ob sie für ein selbstgedrehtes Youtube-Video posieren und agieren.

Labyrinthische Erfahrungen

Nach einer Weile nutze ich wie viele andere die Gelegenheit, das schwarze Labyrinth zu betreten. Im Gedränge, das sicher das krasse Gegenteil der in der Oper beschworenen Zauberidylle darstellt, ist nicht viel Erhellendes zu sehen; allerdings bekommt man ein Gespür für Melissas Schwierigkeiten, sich in die labyrinthische Struktur von Alcinas Reich einzuarbeiten. Entsprechend beschreibt das Programm den Wendepunkt der kurzen Handlung mit dem Satz „Melissa hackt sich in das Programm“. Nach ca. 20 Minuten lässt der Bewegungsdrang der Zuschauer nach. Einige nutzen die wenigen Sitzgelegenheiten am Rand, andere gruppieren sich auf den Freiräumen hinter dem schwarzen Irrgarten oder beim Orchester. Einige verfolgen konzentriert die App, andere überlassen sich den Klangeindrücken. Die Opernhandlung, die Beziehungen zwischen den Figuren und überhaupt die Räumlichkeit der Theaterbühne geraten dabei deutlich in den Hintergrund. Es fällt schwer, die Singstimmen zuzuordnen: Singt da jemand von der Seite, von hinten – oder gar aus dem Bühnenturm? Wo steht eigentlich der Chor? Auch dies eine labyrinthische Erfahrung – aber hatte Francesca Caccini wirklich nur „Melissa‘s Quest“ im Blick? Meine Frau, die dem Tablet treu geblieben ist, findet die Zeitverschiebung irritierend. Die Mundbewegungen der Sänger auf dem Schirm entsprechen nicht dem, was soeben erklingt, sondern dem, was gerade schon vorbei ist. Dass es unter den heiklen räumlichen Bedingungen bisweilen an der Intonation und an der rhythmischen Präzision mangelt, hört man auch so.

Fixpunkt Orchester

Zentraler Fixpunkt der Aufführung bleibt das Orchester, das – mit Ausnahme zweier kurzer eingespielter Blechbläser-Passagen – eine beachtliche Realpräsenz beweist. Die kleine Streicherbesetzung wird farbenreich ergänzt durch zwei Zinke, verschiedene Typen von Blockflöten sowie vier verschiedene Tasteninstrumente, darunter ein Regal mit schnarrenden Zungenpfeifen und spektakulären Blasebälgen, das sich besonders gut zur Charakterisierung von Alcinas dienstbaren Ungeheuern eignet. Unter Leitung des Alte-Musik-Experten Clemens Flick wird temperamentvoll und affektgeladen, differenziert in Artikulation und Instrumentierung musiziert. Man spürt wirklich das Aufregende dieser Musik, die menschliches Leiden und Fühlen in den Mittelpunkt gestellt hat. Nur eben, dass diese Menschen hier nicht sichtbar sind und man nur über Umwege zuordnen kann, um wessen Leidenschaften es gerade geht. Einer sehr körperlichen, resonanzerweckenden und auch physisch sichtbaren Musik steht damit eine denkbar unkörperliche Aufführung gegenüber. Der nächste Schritt in die Zukunft wäre vielleicht nun, dass sich der Zuschauer die Oper gleich daheim über einen Youtube-Kanal anschaut.

Komfortzone?

Aber ist nicht die Grundidee des Theaters die der leiblichen, geistigen und seelischen Präsenz von Darstellern und Zuschauern? Hat nicht die Florentiner Camerata, in deren Tradition Francesca Caccini steht, die Wiederbelebung der antiken Tragödie erstrebt? Und war diese nicht eine höchst öffentliche Angelegenheit – ein Ort und eine Gelegenheit, wo sich eine Gesellschaft ihres Zusammenhalts und ihrer Probleme vergewisserte? Setzt nicht die barocke Oper auf die Gesamtschau aller Beteiligten und die Dynamik der Beziehungen zwischen ihnen? Soll ich wirklich nur Alcina oder Ruggiero oder Melissa sehen – und nicht den Raum und das Geflecht zwischen ihnen? Und wo liegt heute in unserer Gesellschaft die wirkliche Komfortzone, die man verlassen sollte? Im ach so bequemen Theatersessel neben Leuten, die ich mir als Nachbarn nicht ausgesucht habe, in einer Aufführung, auf die ich mich über zwei Stunden einlassen muss – oder im individuellen Zugang an meinem Bildschirm auf individualisierte Vorlieben und gemeinschaftliche Echokammern, die ich nach Belieben an- oder wegklicken kann?

Francesca Caccinis Oper jedenfalls wird diese Aufführung nicht gerecht, wenn sie sich – mit den Worten von Ausstatter Valentin Köhler – eine „Befreiung von Opernkonventionen“ auf die Fahnen schreibt, die zur Zeit der Entstehung noch gar nicht etabliert waren. So mündete „La Liberazione di Ruggiero“ bei der Uraufführung am Ende (nach der exklusiven Präsentation vor geladenen Gästen) in ein Pferdeballett für das breite Publikum im Hofe der Villa Poggio. Welch eine Herausforderung für ein Theater heute! (Eigentlich!) Auf eine überzeugende szenische Aufführung der ersten erhaltenen Oper einer Frau dürfen wir also weiter warten – und hoffen zugleich, dass die Wuppertaler Bühnen ihre sympathische Experimentierlust nicht ablegen, sondern auf geeignetere Objekte anwenden.

Immerhin spürt das Wuppertaler Regieteam, dass es einen gemeinsamen Abschluss geben muss. Das schwarze Labyrinth wird hochgefahren, der heruntergefahrene Vorhang zum Zuschauerraum öffnet sich, und der Männerchor lädt von dort zum Buffet. Das wahrlich stark geforderte Ensemble erhält den verdienten Beifall. Gemeinsam gehen die Zuschauer über Bühne und Zuschauerraum ins Foyer. Das angekündigte Buffet gibt es nicht, das Haus schließt gleich. (Der moderne Mensch, denke ich mir, futtert natürlich lieber daheim mit seinem treuen Begleiter, dem Smartphone, die vom Lieferdienst vorbeigebrachte Pizza.…) Doch als physischer Rest einer virtuell dominierten Aufführung verbleibt unter meinen Schuhsohlen ein hartnäckig klebender Rest von schwarzen Haaren und weißer Schminke.

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