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Foto: Bernard Stofleth
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In Klangewittern: In Lyon entfesselt Alexander Raskatov den Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts - auf den Spuren Heiner Müllers

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Alexander Raskatov (65) langt kräftig zu. In seiner gerade in Lyon uraufgeführten neuen Oper, deren Libretto der Komponist aus Heiner Müllers „Germania Tod in Berlin“ (1971) und „Germania 3 Gespenster am toten Mann“ aus dem Todesjahr des Autors 1995 destilliert hat, geht er mit vollem Orchestereinsatz ans Werk. Schrill und mit triumphierenden Salven aus dem Graben. Komponiertes Dauerfeuer.

Und für die Sänger(innen) schräge Vokalisen, hysterische Ausbrüche und atemberaubend gackernde Koloraturen. Dann wieder grüßen Wagner und Konsorten mit einem Sound, als wehten die Fahnen auf den Zinnen von Wagners Walhall zu uns herüber. Oder die Melodie des „Ich hatt einen Kameraden“ zieht wie Pulverdampf übers Schlachtfeld. Hier wird der Argentinier Alejo Pérez am Pult des Lyoner Opernorchesters unversehens zu einem Feldherrn, der gleich mehrere Banner hochzuhalten hat.  

Wenn es richtig brenzlig wird, und das wird es in den zehn Szenen in anderthalb Stunden eigentlich dauernd, dann treibt es die Interpreten auf der Bühne vokal an die Grenzen des Ausdrückbaren. Und das machen sie durchweg hervorragend. Ob James Kryshak als kreischiger Hitler-Tenor oder Gennadii Bezzubenkov als brummig versoffener Stalin. Ob Ville Rusanen als Ulbricht und Michael Gniffke als Thälmann gleich zu Beginn bei ihrem fiktiven Zusammentreffen an der Ulbricht zuzuschreibenden Berliner Mauer. Das Gespräch mundet in die (nie ernsthaft gestellten) Frage: Was haben wir falsch gemacht? Vor allem aber machen Sophie Desmars, Elkena Vassilieva und Mairam Sokolova ihren Auftritt als zum Selbstmord entschlossenen deutsche Kriegerwitwen auch vokal zu einem Höhepunkt des Abends! Die wollen den Untergang von Hitlers Reich nicht überleben und bringen einen SS-Mann auf der Flucht dazu, sie für ein paar Zivilklamotten als Gegenleistung abzuschlachten. Da folgen sie nibelungentreu tatsächlich ihrem Führer – der sich mit Eva, Schäferhund und zitternder Hand (ganz wie bei Bruno Ganz) ebenfalls erschießen lässt. Auf dem Weg nach Walhalla versteht sich.

Aus den Fugen ist die Welt in allen Szenen von „GerMANIA“. Ob als verpfuschte Utopien oder als Bruch jeder Zivilisation auf dem Schlachtfeld. Beim wörtlichen Abschlachten eines deutschen Gefangenen durch Russen oder einem Rückfall in den Kannibalismus bei den Deutschen. Die Akteure sind zwar eindeutig benannt, wären aber austauschbar. Es sind nämlich ein und derselben Leichenberge, auf ein und derselben Drehbühne, mit denen Magda Willi (Bühne) und Wojciech Dziedizic (Kostüme) jene Toteninsel imaginieren, auf der Stalin und Hitler wüten und der Gulag, Stalingrad und der Holocaust zu den Kainsmalen des Jahrhunderts werden. Sie ist es aber auch, wenn dem Starbildhauer der DDR Fritz Cremer der Sarg für Bertolt Brecht zu kurz gerät, weil er einfach nicht gemessen hat. Und Brecht, wohl nicht nur für den Sarg, sondern vor allem für das Land, in das er nach dem Krieg gegangen war, etwas zu groß war. Müller, als jemand der Zigarre rauchte, wie Brecht, und der seine diebische Freude am Witz der Dialektik hatte. Auch wie Brecht. Wenigstens das ist ein Moment zum Durchatmen. Eine Feuerpause in all den Klanggewittern. 

Es ist ein Abend, der das Jahrhundert in die Schranken fordert. Mit Texten, die dem Leiden ihres Autors am eigenen Scharfblick abgerungen sind. Und in denen Heiner Müller seine szenische Collagen aus den Scherben der hellen wie der dunklen Utopien des Jahrhunderts schuf. Die allesamt so zu Bruch gingen, dass es aus dem All widerhallt. Die letzte Szene, das Auschwitz Requiem, beginnt und schließt mit Juri Gagarins berühmtem Gruß aus dem All: Dunkel ist der Weltraum, sehr dunkel….

Das ist an diesem Abend kein Trost, denn von einem Licht auf der Erde gab es nicht die Spur!

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