Von grossen Wunden und kleinen Wundern

In seiner Oper «Erdbeben. Träume» beschäftigt sich Toshio Hosokawa erneut mit der Tsunami-Katastrophe von 2011 in Japan. Mit der Uraufführung endet die grosse Ära von Jossi Wieler und Sylvain Cambreling in Stuttgart.

Marco Frei, Stuttgart
Drucken
Die Naturkatastrophe hat das Kind Philipp überlebt, doch jetzt wird er zum Spielball der Interessen: Szene aus «Erdbeben. Träume» von Toshio Hosokawa und Marcel Beyer. (Bild: A. T. Schaefer / Staatsoper Stuttgart)

Die Naturkatastrophe hat das Kind Philipp überlebt, doch jetzt wird er zum Spielball der Interessen: Szene aus «Erdbeben. Träume» von Toshio Hosokawa und Marcel Beyer. (Bild: A. T. Schaefer / Staatsoper Stuttgart)

Der Abgang hätte länger dauern können. Jetzt aber ein kurzes Finale, wenn auch nicht schmerzlos. Es ist dem Intendanten Jossi Wieler, seinem Chefdramaturgen Sergio Morabito und dem Dirigenten Sylvain Cambreling anzumerken, dass sie bewegt sind. Ihre Zeit an der Oper Stuttgart läuft aus, und damit endet eine grosse Ära. Gemeinsam haben sie das Profil der Staatsoper Stuttgart als ein Ort kritischer Diskurse geschärft.

Dafür steht nicht zuletzt die jüngste Stuttgarter Uraufführung: die Oper «Erdbeben. Träume» des führenden japanischen Komponisten Toshio Hosokawa. Wie schon in seinem Musiktheater «Stilles Meer» von 2016 reflektiert Hosokawa hier die Natur- und Atomkatastrophe in Japan von 2011. Das Libretto von Marcel Beyer fusst auf der Novelle «Das Erdbeben in Chili» von Heinrich von Kleist.

Religion und Trauma

Schon 1984 hatte Awet Terterjan die Oper «Das Beben» vorgelegt, die ebenfalls auf Kleist zurückgeht. Die Uraufführung konnte erst 2003 am Münchner Gärtnerplatz-Theater realisiert werden: sieben Jahre nach Terterjans Tod. Anders als Hosokawa interessierte sich der gläubige Christ Terterjan vornehmlich für die religiösen Aspekte des Stoffes. Es geht um die Anmassung einer göttlichen Richterrolle, die das fatale Beben als Strafe betrachtet, sowie um religiösen Fanatismus. Alles dreht sich um den Privatlehrer Jeronimo und die adlige Josephe, die eine verbotene Liebe leben. Das Ergebnis ist ein uneheliches Kind – was die religiösen Gemüter zusätzlich erhitzt.

Für den Mob ist schnell klar, wer die Schuldigen für die Naturkatastrophe sind: das «sündige Paar». Von dem Schuster Pedrillo angestachelt, werden Jeronimo und Josephe erschlagen. Zuvor wird Constanze, die Schwägerin von Fernando, einem Freund der Familie Josephes, gelyncht: weil der Mob sie für Josephe hält. Das Baby von Constanze wird mit dem unehelichen Kind von Josephe verwechselt. Nur Fernando und das Kind Philipp überleben das Gemetzel. Genau hier setzt Hosokawa an.

Seine Oper rückt das Waisenkind in den Fokus. Fernando und seine Frau Elvire, der Bariton André Morsch und die Mezzosopranistin Sophie Marilley, nehmen es auf und berichten ihm von seiner wahren Herkunft. Das geschieht in achtzehn Szenen, wobei diese Rückblenden offenkundig Traumbilder von Philipp sind. Als stumme Rolle, eindringlich dargestellt von Sachiko Hara, ist er omnipräsent.

Anna Viebrock hat dafür eine Bühne entworfen, die sichtlich vom Katastrophengebiet in Japan inspiriert ist. Das Haus auf der Bühne ist eine Betonruine, mit Möbeln und anderen Gegenständen. Diese öde Trümmerwüste ist der perfekte Rahmen für eine Inszenierung, die sich betont konkret gibt. Während bei der Hamburger Uraufführung vom «Stillen Meer» das japanische Nō-Theater betont wurde, brechen Wieler und Morabito die Abstraktion auf. Der Steg, auf dem die Darsteller im Nō-Theater zur Hauptbühne gelangen, steht in Stuttgart nicht für die Transzendenz, sondern ist als Betonbrücke völlig real. In dieser Szenerie werden die Ereignisse nachgezeichnet: die tödlichen Schicksale von Josephe und Jeronimo, dargestellt von der Sopranistin Esther Dierkes und dem Bariton Dominic Grosse, sowie von Constanze (Josefin Feiler) und ihrem Säugling.

Ungeheure Spannung

Bald steht Philipp vor den Trümmern seines Elternhauses, reisst den Mund weit auf zu einem lautlosen Schrei: Mit diesem einfachen Theatermittel verdeutlichen Wieler und Morabito die Intentionen Hosokawas. Er möchte das Unaussprechliche aussprechen, den Traumatisierten Gehör verschaffen, von grossen Wunden und kleinen Wundern erzählen. «Alles Verschüttete aufspüren», singt der Chor im «Traum-Eingang» der ersten Szene: Für Hosokawa ist das ein persönliches Bekenntnis, zumal in Japan die Katastrophe bis heute kollektiv verdrängt und sogar tabuisiert wird.

Die Worte verdeutlichen indes auch, wie vielschichtig Hosokawa den Chor einsetzt. In ihm spiegelt sich nicht nur das entfesselte Kollektiv wider, samt einer Horde von «sadistischen Knaben», die von dem Countertenor Benjamin Wilson als «Anführer» und dem Tenor Torsten Hofmann als «Demagoge Pedrillo» aufgehetzt werden. Der Chor ist auch die Stimme der Verstummten – der Staatsopernchor verlebendigt sie exemplarisch. Wie im «Stillen Meer» zeigt sich zudem, dass die Katastrophe von 2011 die Musik Hosokawas tiefgreifend verändert hat.

Hosokawa arbeitet verstärkt mit dramatischen Kontrastierungen, samt eruptivem Schlagwerk. In der neuen Oper sind die dynamischen Extreme jetzt noch deutlicher gezeichnet. «Aus dem Flüstern heraus» erwächst die Oper, so die Partitur, und mit dieser «Flüstermusik» klingt sie aus. Dazwischen erprobt Hosokawa geräuschhafte Fragmentierung und grossflächige Ausbrüche, mikrotonal gebrochen oder zu Clustern und Glissandi verdichtet.

Das alles erzeugt eine ungeheure Spannung und wirkt gleichzeitig faszinierend sinnlich, zumal mit Cambreling ein überragender Exeget dieser Musik zu erleben war. Das Staatsorchester erreicht eine faszinierende Durchhörbarkeit der Strukturen und klangfarblichen Fakturen, wovon nicht zuletzt die grossartigen Solisten profitieren. Einmal mehr zeigt sich, wie sehr Cambreling den Klang des Orchesters geprägt und mit seiner hellhörigen Differenzierungskunst geöffnet hat.

Noch ohne Profil

Für Viktor Schoner und Cornelius Meister wird es nicht einfach, wenn sie im Herbst das Ruder in Stuttgart übernehmen. Besonders risikoreich ist der Wechsel für das Staatsorchester, denn der künftige Generalmusikdirektor Meister ist bis dato noch nicht mit einem klaren Profil aufgefallen. Auf szenischem Gebiet verrät hingegen die kommende Saison, dass die nicht immer unproblematische Ästhetik an der Bayerischen Staatsoper Spuren hinterlassen hat: In München war Schoner künstlerischer Betriebsdirektor, und die dortige «Deko-Bühne» hat nichts mit dem in Stuttgart etablierten «Diskurs-Theater» gemein. Eine zweite Bayerische Staatsoper aber braucht der Süden Deutschlands nicht.