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Jane Archibald (Mathilde), John Osborn (Arnold Melchthal)  Foto: © Moritz Schell
Jane Archibald (Mathilde), John Osborn (Arnold Melchthal) Foto: © Moritz Schell
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Gioacchino Rossinis „Guillaume Tell“ im Theater an der Wien

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Zu Beginn und am tyrannentödlichen Höhepunkt der Oper wird Tells Geschoss jetzt in Wien im Nahkampf verabreicht. Von Hand in die Brust, auf freier Wildbahn. Der erstmals um 1550 von Aegidius Tschudis „Chronicon Helveticum“ kolportierten Legende zufolge war zwar eine Distanzwaffe im Einsatz. Schiller beschreibt minutiös den Hinterhalt, eine „hohle Gasse“ bei Küssnacht. Dort, nicht auf einer weiten verschneiten Fläche, soll der Anschlag des Wildschützen stattgefunden haben. Aber nun kommt alles ganz anders.

Der Regisseur Torsten Fischer permutiert das im Drama von 1804 aufwändig legitimierte Attentat auf den habsburgischen Landvogt Gesler, dem der historisch verbürgte Konrad von Tillenburg als Modell diente, zu einem ‚ehrlichen‘ Kampf zweier starker Männer, die sich ineinander verkrallen. Auf homoerotisch inspirierte Weise arbeiten sie sich aneinander ab, als wollten sie mit dieser auch noch in einem B-Movie reüssieren. Vielleicht ist das Gerangel der beiden Männer der Überrest des eingesparten Balletts?

Schiller-Aufguss ohne Schiller-Substanz?

Der Berliner Regisseur Fischer rechtfertigt seinen Zugriff auf das von wem auch immer eingekürzte Werk mit der lapidaren – und im Programmheft ohne sachkundigen Widerspruch bleibenden – Satz: „Die Oper hat im Prinzip mit Schiller nichts zu tun“. Weiß er es nicht besser? Oder will er die verbliebenen Reste von Bildungsbürgertum im Publikum testen? Nun denn: Friedrich Schillers „Vorlage“ ging auf dem Weg zu Gioacchino Rossinis Libretto zwar durch die Hände verschiedener Bearbeiter – Théodore Baudouin d’Aubigny, Victor-Joseph de Jouy und Hippolyte Bis. Sie war dann auch noch der nicht unerheblich die Zensur des autoritär-reaktionären Systems von König Charles X unterworfen. Aber Schillers freiheitstatendurstiger und die Tyrannenmordfragen gründlich abwägender Text ist und bleibt der harte Kern der ersten und maßstabsetzenden Grand opéra.

Deren Musik schweift in die alpenländische Idylle aus, erhebt sich zu emphatischen Liebeskoloraturen und bäumt sich auf – mit den Stürmen überm See und im Klassenkampf neuer Feudalherren gegen alteingesessene freie Bauern und Jäger. Diese schließlich freiheitsrauschende Musik bringt Diego Matheuz mit seiner zurückgenommenen Zeichengebung vorzüglich zur Geltung: als empfindliches Artefakt, das nur zu leicht aus der Balance geraten kann. Mit den Wiener Symphonikern steht Matheuz ein Instrument von bemerkenswerter Präzision und Kompetenz zu Verfügung: Die Cello-Soli geraten so seidenmatt wie die Blechbläser-Interventionen präzise. Die Fagottistin und der Fagottist sitzen auf der Stuhlkante. Der Erste Flötist liefert die höhenluftigen Eskapaden seiner Partie ohne Fehl und Tadel. Die Streicher zeigen schon beim Geschwindmarsch am Ende der Ouverture, zu welcher Gemeinschaftsleistung sie fähig sind.

Große Stimmen im treffsicheren Eisatz

Jane Archibald verschafft ihrer Rolle als Mathilde mit großer, voller, technisch ausgereifter Stimme und der wünschenswerten Höhensicherheit das zentrale Gewicht, das ihr auf dem Weg von der völlig in ihre Befindlichkeitsfragen eingesponnenen Fürstentochter zum politisch handelnden Subjekt zukommt. Großartig ihre in Koloraturen gegossene Verzweiflung über die Unmöglichkeit der Liebesambitionen. Ihr ist John Osborn als der junge Arnold Melcthal ein rücksichtvoller Liebhaber und in all den Terzen- und Sexten-Gängen ein getreuer Duo-Partner. Als der klassenmäßig zu tief stehende Burschi, den er darzustellen hat, ist er eigentlich bereits zu sehr in die Jahre gekommen – aber auf Plausibilitäten dieser Art nimmt die Disposition der teuren Stimmen im Opernalltagsgeschäft schon lange kaum mehr Rücksicht. Das wäre aber in Zeiten, in denen es doch so sehr auf die Optik ankommt, vielleicht empfehlenswert.

Dass Regisseur Fischer Mathilde zum Flintenweib an der Seite der in weiße Hemden gewandten Freiheitskämpfer degradiert, erscheint ähnlich geschmackssicher wie das auf die Religiosität der Landleute verweisende Kreuz an der Bühnenrampe. Es ist nach der Art, wie es für Udo oder Kevin am Rande einer Bundesstraße aufgestellt wird, wenn sie sich mit dem Motorrad unter der Leitplanke durcharbeiten wollten.

Irgendwie gehört Christoph Pohl zu deren Milieu. Als Tell dominiert dieser sympathische Bariton das szenische Geschehen und verkörpert den Mann aus dem Volk bzw. des Volkes glaubhaft. Er sieht aus wie ein Münchener Tatort-Kommissar. Offensichtlich hat er in bessere Kreise eingeheiratet: Seine Hedwige ist in Gestalt und mit der Stimme von Marie-Claude Chappuis eine feinherbe Mutter und umsichtige Gattin. Doch Anton Rositskiy als beilschwingender Ruodi passt weit besser ins genuin rustikale Milieu des Stücks.

Freiheit und Liberalismus

Das hat die Ausstattung von Herbert Schäfer und Vasilis Triantafillopoulos gänzlich weggeputzt: Nach der schneebedeckten Weite gibt’s gedeckte Tische, moderne Stahl- und Glas-Architektur, Filmeinblendungen mit Kampfflugzeugen aus den europäischen Kriegen in der Mitte des vorigen Jahrhunderts (aber immerhin auch allerschönste Abendröte). Die Uniformen der Habsburger erinnern an die lateinamerikanischer Diktaturen, werden aber von deutschem Eisernen Kreuz dekoriert. Der „Halb-Realismus“ der Aktionen, zu denen Torsten Fischer die singenden Protagonisten und die Choristen veranlasst, korrespondieren diesem Kauderwelsch.

Viel wird mit Schnellfeuerwaffen gefuchtelt und nichts Konkretes ist nie gemeint. Außer eben, „dass hüben wie drüben das politische Gedankengut nicht unbedingt ein liberales ist“: Bei den Freiheitskämpfern, die entgegen den privaten Glückserwartungen vorübergehend Politik an die erste Stelle setzen (und das ist in Zeiten der schärfsten Unterdrückung eben der Befreiungskampf) wie bei den brutalen Unterdrückern.

Halb-Realismus-Kauderwelsch

Ja, da hat Fischer recht: all die Gedanken, die da gewälzt werden, stammen aus der Zeit vor der Erfindung des Liberalismus mitteleuropäischer Prägung. Aber hat das, was der Regisseur im Reflex gegen den Patriotismus früherer gesellschaftlicher Formationen als „Freiheit, wie ich sie verstanden haben möchte“, auswirft, außer dem Begriff noch etwas gemeinsam? Dass Akten vom Tisch gefegt und in subjektiver Erregung Möbel umgestoßen werden?

Der größte Unfug der neuen Wiener „Tell“-Inszenierung ist, dass er einen politischen Kampf, den die Leute von Schwyz, Uri und Unterwalden („welthistorisch exemplarisch“) ausgefochten haben, auf das aktübergreifende Raufen von zwei Männern in halbwegs heutigem Outfit reduziert (da böte die ohnedies, aber eben nur dekorativ in Einsatz gebrachte Video-Technik fürwahr ganz andere Möglichkeiten!). So bewegt sich der große musikalische Ernst Rossinis am Rande von szenischem Kasperle- und Rüpel-Theater. Zu den zivilisatorischen Errungenschaften des letzten halben Jahrtausends gehört doch u.a., dass die politisch-militärischen Führer während des „Ernstfalls“ in Palästen oder Bunkern sitzen und selbst nicht Hand an den Feind legen. Dass sich der Mitverschwörer Walter Fürst zum Schlussjubel „Freiheit, steige vom Himmel hernieder“ die Uniformjacke des toten Gesler überzieht, ist nochmals eine ärgerlich schräge Bildmetapher: Als gehörte es nicht gerade zu den Charakteristika der in jedem Befreiungsakt lauernden neuen Usurpatoren der Macht, dass sie erst einmal die Kostümierung wechseln.

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