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Foto: Matthias Baus
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Ganz nah am Text: Prokofiews „Die Liebe zu den drei Orangen“ in Stuttgart

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Ein Prinz, der sich auf der Bühne übergeben muss, ein gestandener Bass als böse Köchin und ein Zauberer, dessen magische Kräfte vom Teufel angezweifelt werden: Sergej Prokofiews Oper „Die Liebe zu den drei Orangen“ hat viele groteske Momente. Dass nun aber die Prinzessin, in die sich der Prinz unsterblich verliebt, schwanger ist, steht nicht im Libretto, sondern ist nur an der Stuttgarter Staatsoper zu erleben. Da braucht es einen Regisseur wie Axel Ranisch, der die (echte) Schwangerschaft von Esther Dierkes als Ninetta parodistisch aufgreift und so selbstverständlich in die absurde Handlung integriert, als wäre es so ausgedacht.

Überhaupt macht der Filmemacher, dessen zu weiten Teilen improvisierter Tatort „Babbeldasch“ die Fernsehnation verstörte, an diesem jetzt schon kultigen Musiktheaterabend alles richtig, indem er das Absurde der Vorlage noch weitertreibt und perfekt mit der dahinrasenden Musik verzahnt.

Prokofiew wollte mit dieser auch musikalisch überhitzten, am Rande des Nervenzusammenbruchs siedenden Oper, die 1921 in Chicago uraufgeführt wurde, einen bewussten Gegenentwurf zur schwülstigen Romantik und den bedeutungsüberladenen Musikdramen Richard Wagners schaffen. Den Theaterstreit zwischen den Tragischen, den Komischen und den Sonderlingen, der sein historisches Vorbild in der Auseinandersetzung zwischen Pietro Chiari, Carlo Goldoni und Carlo Gozzi im 18. Jahrhundert hat, thematisiert Prokofiew sogar im Prolog zur Oper. Und schafft damit eine weitere theatralische Ebene, die das Geschehen immer wieder bricht. Auch die Handlung selbst ist zwischen der Prinzengeschichte und der seiner Gegenspieler eingespannt: drei Stücke in einem!

Axel Ranisch fügt jetzt noch eine vierte Ebene hinzu, indem er die Oper als Computerspiel „Orange Desert III“ aus den frühen Neunzigern verpackt. Der daddelnde Junge (cool: Ben Knotz) ist zunächst nur digital auf der Leinwand zu sehen (Computeranimation: Till Nowak) und wird von seinem Vater zum Essen gerufen. Dafür hat er aber keine Zeit und drückt lieber auf den Startknopf – und das Spiel beginnt.

Nicht nur die Wüstenlandschaft im Hintergrund ist schön verpixelt wie in den Anfängen des Computerzeitalters. Auch die Bühne mit einem Turm und einer Rutsche ist aus kleinen Quadraten gebaut (Bühnenbild: Saskia Wunsch). Die Sängerinnen und Sänger bewegen sich in rechtwinkligen Bahnen. Und selbst der bekannte Marsch erklingt manches Mal digital. Zu Beginn hat das Stuttgarter Staatsorchester unter der Leitung von Alejo Pérez noch leichte Koordinationsprobleme. Da greifen noch nicht alle Rädchen ineinander, und besonders der spielfreudige Chor (Einstudierung: Manuel Pujol) ist manches Mal hinterher. Aber in den aberwitzigen Repetitionspassagen, die Prokofjew zu atemlosen Steigerungen nützt, ist die Interpretation nah an der Perfektion. Die Solisten und den Chor haben Bettina Werner und Claudia Irro in quietschbunte Kostüme gesteckt, die dem trashigen Setting das Sprühsahnehäubchen aufsetzen.

In diesem ästhetischen Super-GAU agiert das Ensemble so selbstverständlich, dass die bewusst gewählte Künstlichkeit schon bald mit prallem Leben gefüllt wird. Elmar Gilbertsson streift als Prinz, der nicht lachen kann, mit seinem rosa Schlafsack auch seine Verklemmtheit ab, um mit leuchtendem Tenor und blonder Vokuhila-Perücke den König (stark: Goran Juric) zu verlassen und seine Prinzessin in den drei Orangen zu suchen. Mit Daniel Kluge als Truffaldino hat er einen wendigen Spaßmacher dabei, Michael Ebbecke unterstützt ihn bei seiner Mission als weißhaariger Zauberer mit sonorem Bariton. Aber auch die Gegenspieler sind mit Shigeo Ishino als aalglatter Premierminister Leander, der dunkel timbrierten bösen Prinzessin Stine Maria Fischer und der glatzköpfigen Carole Wilson als Hexe Fata Morgana stark besetzt, so dass der Kampf um den Thron spannend bleibt.

Nach der Pause knüpft Axel Ranisch die Fäden zusammen und zündet noch ein paar Regiegags, bleibt aber in der konkreten Szene ganz nah am Text. Matthew Anchel als tuntige Köchin ist auch der Papa des Jungen, der schließlich am Joystick das ganze Personal auf der Bühne bewegt, um seinen von Fata Morgana entführten Sohn zu retten. Die schwangere Prinzessin Ninetta bekommt ihre Wehen und gebiert, unterstützt vom mithechelnden Prinzen, eine Orange. Am Ende zeigt sich das Stuttgarter Publikum begeistert von der musikalischen Umsetzung, aber vor allem von der Fantasie und Fabulierkunst des Regisseurs. Und auch die Kinder, die diesen ganz bewusst als Familienoper konzipierten, auf Deutsch gesungenen Abend (Übersetzung: Werner Hintze) erleben, stecken danach im Foyer strahlend ihre Köpfe zusammen. Am Ausgang erhält jeder Premierenbesucher eine Orange. Und auf dem Aufkleber steht: Ninetta?

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