Meine erste Oper sah ich in Berlin. Damals stand Wagner auf dem Programm und ich war als Jugendlicher stolz darauf, endlich dazuzugehören. Die Kombination von visueller Aussagekraft und ekstatischer Musik machte einen unauslöschlichen Eindruck auf mich. Noch immer überkommt mich eine kindliche Vorfreude, wenn im Opernhaus die Lichter ausgehen und die Ouvertüre beginnt. Egal welcher Komponist mich mit auf seine Reise nimmt, ich fühle mich dann nach dem Schlussapplaus immer ein Stück reicher. Mit etwas Glück auch ab und zu wie ein anderer Mensch.

An der Amsterdamer Oper hinterließ schon der Moment, in dem der Vorhang für Oedipe aufging ein euphorisches Gefühl. Es offenbarte sich nämlich hinter diesem mit einem Tempelfries bemalten Tuch ein ebensolches Tableau Vivant. In rötlichen Lehmtönen waren auf vier Etagen etwa hundert Sänger und Figuranten in von Lluc Castells entworfenen altgriechischen Kostümen aufgestellt. Die Frauen des auch an diesem Abend wieder hervorragend singenden Amsterdamer Opernchores besangen die Geburt des Oedipus (Johan Reuter) im Königspalast von Laïos (Mark Omvlee) und Jocaste (Sophie Koch). Und wie allgemein bekannt wird dieser Königssohn als junger Mann seinen Vater töten und seine Mutter heiraten.

Der rumänische Komponist George Enescu hat neben einer großen Anzahl Orchesterwerken und Kammermusik nur eine Oper komponiert und wie in vielen seiner Kompositionen verarbeitete Enescu auch in Oedipe Melodien rumänischer Volksmusik. Neben dieser Couleur Locale hatte auch der französische Impressionismus einen nicht zu überhörenden Einfluss auf seine Oper. Mit Windmaschinen, Saxophon und singender Säge lässt Enescu sein groß besetztes Orchester zu immer neuen Klangorgien zusammenschmelzen. Marc Albrecht hatte sein Nederlands Philharmonisches Orchester vor allem den rhapsodischen Charakter der ungewöhnlichen Partitur herausheben lassen. Die Holzbläsersolisten traten ein ums andere Mal in langen freigehaltenen expressiven Soli hervor. Besonders erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang das Saxophon, welches im Zusammenspiel mit dem Fagott eine ganz unerhörte Klangfarbe hervorbrachte.

Die Regisseure Álex Ollé und Valentina Carrasco vom katalanischen Theaterkollektiv La Fura dels Baus haben aus dieser weitgehend unbekannten Oper ein Fest fürs Auge gemacht. Vor allem die großen Chorszenen sind alle Sinne überwältigend auf die Bühne gebracht. Damit gelingt es ihnen, das Wesen und Wirken der königlichen Machtmaschine wirkungsvoll zu beschreiben und immer wieder überzeugend in Szene zu setzen. Zu den bleibenden Eindrücken dieser zum ersten Mal 2011 in Koproduktion der Opern von Brüssel und Paris realisierten Inszenierung, die auch in London gezeigt wurde, gehört außerdem die geflügelte Sphinx. Diese ist in Amsterdam ein Messerschmitt Bf 109 Jagdflugzeug mit Violeta Urmana als mordsüchtige Belagerin Thebens im Pilotencockpit. Auch die tiefgründige Szene als sich Merope (Catherine Wyn-Rogers) neben ihrem Ziehsohn Oedipus zu einem klärenden Gespräch an die Couch setzt und sich noch schnell den weißen Therapeutenkittel überzieht, brennt sich noch lange ins Gedächtnis. Unübertroffen aber ist die katharsische Wirkung des Wasserstrahls, der sich am Ende des vierten Aktes hoch aus dem Bühnenhimmel auf den glänzend singenden und spielenden Johan Reuter ergießt, bevor dieser im blendenden Scheinwerferlicht verschwindet.

Oedipus handelt als Individuum, welches sich seiner Handlungsfreiheit bewusst ist. Im heldenhaften Versuch sich seinem (vorhergesagten) Schicksal zu entziehen wird er ohne es zu ahnen immer mehr in dieses verstrickt. Anders als bei Sophokles, dessen tragisch endende Oedipusdramen Enescu und seinem Librettisten Edmond Fleg als Inspiration dienten, endet dieser 1936 uraufgeführte Oedipe versöhnlich: angesichts der Erkenntnis, dass er sich seiner Schuld nicht bewusst sein konnte, spricht der Protagonist sich nach langer Irrfahrt von jeglicher Schuld frei und findet so letztendlich Frieden.

Eric Halfvarson verhalf dem blinden Seher Teresias nicht nur durch seine durch Mark und Bein gehende Bassstimme einen besonderen Platz in dieser Produktion, sondern auch dank seines schauspielerischen Könnens eine imposante Gestalt. Auch Sophie Kochs als Jocaste und Heidi Stobers als Antigone waren Reuter ebenbürtige Gesangspartnerinnen. Der französische Bass François Lis gab als Le Grand-Prêtre der Vorstellung das erhabene Pathos.

Ich werde mich noch lange an diese außergewöhnliche Vorstellung erinnern. Zum einen wegen der düster lebendigen Beleuchtung (Peter van Praet), vor allem aber wegen des spielerisch genialen Bühnenbildes von Alfons Flores. Der so oft beiläufig zitierte Ödipuskomplex glänzt für mich seit dieser eindringlichen Opernerfahrung in gänzlich neuem Licht.

****1