Mary Shelleys Tochter kehrt zurück – Opernuraufführung in Basel

Michael Wertmüllers neue Oper «Diodati. Unendlich» nach einem Libretto von Dea Loher ist ein Spektakel zwischen Literatur, romantischen Phantastereien und modernen Menschenversuchen, lässt aber in ihrer Überfülle an Perspektiven etwas ratlos zurück.

Thomas Schacher, Basel
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Vielleicht hilft ja Musik beim Kinderkriegen – mit moderner Technik geht das Menschenmachen allerdings womöglich einfacher: Szene aus Michael Wertmüllers und Dea Lohers Oper «Diodati. Unendlich» in Basel. (Bild: Sandra Then / Theater Basel)

Vielleicht hilft ja Musik beim Kinderkriegen – mit moderner Technik geht das Menschenmachen allerdings womöglich einfacher: Szene aus Michael Wertmüllers und Dea Lohers Oper «Diodati. Unendlich» in Basel. (Bild: Sandra Then / Theater Basel)

Die titelgebende Villa Diodati gibt es tatsächlich. Sie steht am Chemin de Ruth 9 in der Genfer Gemeinde Cologny. Dank ihrer leicht erhöhten Lage erlaubt sie einen prächtigen Ausblick auf den Genfersee und die gegenüberliegende Jurakette. Die Villa ist in Privatbesitz und kann nicht besichtigt werden – trotzdem pilgern jedes Jahr Hunderte von literarisch Interessierten nach Cologny, um wenigstens einen Blick auf das Gebäude zu erhaschen. Denn hier wurde Literaturgeschichte geschrieben.

Im Jahr 1816 beherbergte die Villa gleich mehrere Stars der englischen Literaturszene. Sie waren angereist, um im Geiste Rousseaus die Schweizer Alpenwelt zu bestaunen. Dazu kam es allerdings nicht, denn infolge eines Ausbruchs des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa verdunkelte sich der Himmel auch in Europa derart, dass es in der Folge zu Überschwemmungen und Missernten kam: 1816 ist als das «Jahr ohne Sommer» in die Geschichte eingegangen. Unsere Literaten waren also weitgehend ans Haus gebunden und verbrachten dort ihre Zeit mit Diskutieren, Vorlesen, Schreiben – und Drogenkonsum.

Vielstimmig

Die berühmteste Figur war der Dichter Lord Byron. Ihn begleiteten seine schwangere Geliebte Claire Clairmont und der Arzt und Schriftsteller John Polidori. Mit von der Partie waren der Dichter Percy Shelley und dessen Geliebte (und spätere Frau) Mary Godwin. Und eben hier, in der Villa Diodati, verfasste diese den Horror-Roman «Frankenstein or the modern Prometheus».

Polidori entwarf zur gleichen Zeit ausserdem seine Kurzgeschichte «The Vampyre». Die Gruppe war somit der Auslöser für das Vampirfieber, das in der Folgezeit in ganz Europa ausbrach. Der Schweizer Komponist Michael Wertmüller und die deutsche Dramatikerin Dea Loher haben diesen reizvollen Stoff nun zu der Oper «Diodati. Unendlich» geformt. Am Theater Basel, in dessen Auftrag das Werk entstanden ist, fand am Donnerstag die Uraufführung statt.

Dea Lohers Libretto ist ohne Frage ambitioniert, aber thematisch überladen. Wertmüllers Musik versucht der Vielfalt an Motiven gerecht zu werden und zerfällt dadurch ihrerseits in ein Sprachengewirr. Die Regisseurin Lydia Steier wiederum setzt noch eins drauf, indem sie der im Libretto angelegten Verknüpfung der Literatenstory mit der Gegenwart eine rätselhafte Deutung gibt. Eine interessante dritte oder vierte Dimension steuern schliesslich die Videos von Tabea Rothfuchs bei. Grossartige Arbeit leisten die Band Steamboat Switzerland und das Sinfonieorchester Basel unter der Leitung von Titus Engel. Nicht zuletzt die sechs Protagonisten überzeugen sowohl stimmlich wie darstellerisch.

Leben schaffen

Dea Loher bringt in der Entwicklung der Figuren viel Realismus ins Spiel. Demgegenüber zeichnet sich ihre Sprache durch betonten Kunstcharakter aus. Dies erweist sich insbesondere in den lautmalerischen Chornummern, die laut Textbuch von Physikern des Europäischen Nuklearforschungszentrums Cern gesungen werden. Mit dem ebenfalls in Genf ansässigen Cern konfrontiert die Librettistin die Welt von 1816 mit jener von heute: So wie Mary leblose Materie zum Leben erwecken will, versuchen die Forscher mit ihren Teilchenbeschleunigern, den Geheimnissen des Lebens und des Universums auf die Spur zu kommen.

Im Stück wird dieser Aspekt jedoch abgewandelt: Bei Lydia Steier erwecken die Physiker die Figuren von damals zu neuem Leben, um mit ihnen wie mit Versuchskaninchen zu experimentieren. Die Literatengruppe merkt das indes, bringt die Physiker um und befreit sich von ihnen. Warum die Physiker dann in der Schlussszene, zusammen mit den geklonten neuen Menschen, als «good guys» wieder auferstehen, bleibt rätselhaft.

Die Kostüme von Ursula Kudrna tragen der Zweiteilung des Geschehens Rechnung, indem die Literaten in historischen Gewändern, die Cern-Leute dagegen in bedrohlich wirkenden weissen Overalls auftreten, die an Bilder von der Reaktorkatastrophe in Fukushima erinnern. Die Zweiteilung ist ebenfalls in Flurin Borg Madsens Bühne realisiert. Im ersten Teil der Oper ist das putzige Interieur der Villa von den kontrollierenden Physikern und ihren medizinischen Geräten umstellt. Im zweiten Teil öffnet sich der Innenraum, und die Protagonisten entwickeln sich psychisch in ungeahnte Richtungen.

Mary erweckt ihr verstorbenes Mädchen zu neuem Leben, Byron verabschiedet sich in die Einsamkeit, Shelley hängt seinen Segelträumen nach, und Claire liegt in den Wehen. Am Schluss bleibt man etwas ratlos zurück: Geht es in dieser Oper um Natur und Technologie, Vergangenheit und Gegenwart, philosophische Fragen des Menschseins, die Erzeugung der Unsterblichkeit oder um das Ausgeliefertsein des Menschen an seine sexuellen Triebe?

Postmodern

Michael Wertmüller tanzt als Komponist von jeher auf unterschiedlichen Bühnen. Das leitet sich schon von seinem Werdegang her, der mit einer Ausbildung zum Schlagzeuger an der Swiss Jazz School begann und mit Kompositionsstudien bei Dieter Schnebel in Berlin endete. Entsprechend ist die Klangwelt von «Diodati. Unendlich» betont polystilistisch. Es finden sich darin so heterogene Elemente wie Atonalität und Serialität, repetitive Muster, irrwitzig komplizierte Rhythmen, Anklänge an romantische Musik, hymnische Aufschwünge, chaotische Passagen, jazzinspirierte Partien und schweizerisch anmutende Hammondorgel-Klänge. Das Verdikt von der postmodernen Beliebigkeit trifft hier den Nagel auf den Kopf.

Mit dem Bariton Holger Falk steht für Lord Byron ein perfekter Interpret zur Verfügung. Mit stimmlicher und darstellerischer Exaltation realisiert er die Figur des zerrissenen, genuss- und sexsüchtigen, idealistischen und letztlich einsamen romantischen Helden. Sara Hershkowitz mit ihrem wunderbaren Koloratursopran gibt die schwangere Claire als durchgeknallte Frau. Der Basso profondo Seth Carico deutet die Rolle des Doktors Polidori in bisweilen übertrieben buffonesker Art. Rolf Romei mimt Shelley als abgehobenen Literaten, der die gesellschaftlichen Veränderungen lieber schreibend als handelnd angeht. Samantha Gaul zeichnet die kleine Partie von Byrons Halbschwester Augusta als Nymphomanin.

Die stärkste Figur dieser Premierenbesetzung aber ist Kristina Stanek als Mary. Was für ein Ernst und welche Intensität in ihrer Stimme! Und was für eine Besessenheit in ihrem Verlangen, wie Frankenstein in ihrem Roman ein neues Wesen zu erschaffen, nämlich ihre Tochter wieder zum Leben zu erwecken. Der Gang nach Basel lohnt sich schon deswegen.

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