Medea zwischen den Zeiten: In Genf wird die Mörderin zum Opfer

Die Premiere von Marc-Antoine Charpentiers «Médée» an der Genfer Oper verstört und überwältigt zugleich. Das liegt vor allem an der atemberaubenden Verwandlung der Titelfigur.

Thomas Schacher, Genf
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Auf Du und Du mit den Ausgeburten der Hölle: Anna Caterina Antonacci bei ihrem Rollendebüt als Médée mit blutigen Racheteufeln (Statisterie) am Grand Théâtre de Genève. (Bild: GTG / Magali Dougados)

Auf Du und Du mit den Ausgeburten der Hölle: Anna Caterina Antonacci bei ihrem Rollendebüt als Médée mit blutigen Racheteufeln (Statisterie) am Grand Théâtre de Genève. (Bild: GTG / Magali Dougados)

Die Geschichte von der Zauberin Medea, die aus enttäuschter Liebe zu Jason ihre beiden gemeinsamen Kinder und die Nebenbuhlerin umbringt, gehört unter den aufregendsten Stoffen der griechischen Mythologie. Ein regelrechtes Medea-Fieber herrscht in jüngster Zeit am Grand Théâtre Genève. Nachdem dort in den Spielzeiten 2014/15 Luigi Cherubinis «Medea» und 2016/17 Francesco Cavallis «Il Giasone» auf die Bühne gekommen ist, zeigt das Genfer Opernhaus gegenwärtig, als letzte Neuinszenierung der Intendanz von Tobias Richter und in Koproduktion mit der English National Opera, «Médée» von Marc-Antoine Charpentier.

Die lange Zeit selbst in Frankreich nicht allzu häufig gespielte Barockoper aus dem Jahr 1693 hat in den vergangenen Jahren eine erstaunliche Karriere auf den wichtigsten Schweizer Musiktheaterbühnen gemacht: 2015 war sie in Basel, 2017 am Opernhaus Zürich zu erleben; vielleicht wollte Genf da nicht zurückstehen? Dabei ist Charpentiers einziger Beitrag zur Gattung kein einfaches Stück: Es verzichtet nämlich auf die Vorgeschichte und beschränkt sich auf die schrecklichen Ereignisse am Hof des Königs Kreon. Daraus ergibt sich die Schwierigkeit, dass diese Vorgeschichte als bekannt vorausgesetzt oder lediglich über nicht immer einfach zu verstehende Textanspielungen hereingeholt wird.

Atemberaubende Verwandlung

Medea und Jason haben, von Thessalien kommend, bei Kreon politisches Asyl in Korinth bekommen. Der thessalische Herrscher fordert Medeas Auslieferung, weil sie dort durch ihre Zauberkünste Verwirrung und Tod gebracht hat. In Korinth, wo die Handlung beginnt, verliebt sich nun Jason in Kreons Tochter Kreusa. Auf Kreusa abgesehen hat es aber auch Oronte, den Kreon zum Anführer der Krieger bestimmt hat, die den Angriff der Thessalier abwehren sollen.

Die international gefeierte Sopranistin Anna Caterina Antonacci, die Medea in Genf verkörpert und damit ihr Rollendebüt gibt, könnte man in den ersten beiden Akten für eine Fehlbesetzung halten. Keine Spur von der berüchtigten Zauberin, vor der alle Angst haben. Stattdessen gibt sie die Gekränkte, die an der Liebe Jasons zu Kreusa leidet. Doch dann folgt der dritte Akt, in dem Medea beschliesst, sich zu rächen. Atemberaubend, ja schlicht sensationell wirkt ihre Verwandlung in der zentralen Szene, in der sie die Dämonen der höllischen Unterwelt heraufbeschwört und sich dabei auch stimmlich in eine völlig ausser sich geratene Frau verwandelt.

Der Regisseur David McVicar zeigt Medea nämlich als Opfer einer skrupellosen Männergesellschaft. Dies mit einer durchaus psychologisierenden Figurenzeichnung. Damit unterstreicht er den besonderen Charakter von Charpentiers «Médée», worin die Titelfigur, im Unterschied zu anderen Medea-Dramen, nicht von Anfang an den Männerphantasien einer unheimlichen Femme fatale entspricht. Und der Regisseur schafft es sogar, dass man sich als Zuschauer derart mit dieser malträtierten Medea identifiziert, dass man am Schluss für ihre grausame Rache Verständnis aufbringt.

Bewährtes Ensemble

Die beiden abgrundtief fiesen Typen dieses Bühnenwerks sind nämlich Jason und Kreon. Der Jason von Cyril Auvity versucht aus purer Berechnung, bei Kreusa zu landen und Medea loszuwerden. Als Gatte Kreusas kann er nämlich zum Nachfolger Kreons als Herrscher von Korinth werden. Stimmlich überzeugt Auvitys Tenor insbesondere in der Höhe nicht restlos. Der Kreon von Willard White mit seinem imperialen Bassbariton verkörpert den Machtmenschen und Strategen. Oronte (Charles Rice) ködert er mit dem Versprechen, dass dieser nach der gelungenen Militäraktion Kreusa (Keri Fuge) heiraten könne. In Wirklichkeit aber fördert Kreon die Verbindung zwischen Kreusa und Jason, um Medea abzuschieben.

Das Drama spielt bei McVicar nicht im antiken Griechenland, sondern gleichsam zwischen den Zeiten: in der Epoche Ludwigs XIV., in einem militärischen Disneyland und in der Jetztzeit. Die Ausstatterin Bunny Christie lässt die Zuschauer ins Innere eines Salons blicken, der in Versailles stehen könnte. Einen ironisierenden Kontrast dazu bieten die phantastischen Militär- und Fliegeruniformen der männlichen Protagonisten und ihres Gefolges.

Jason erscheint als karrierebewusster Pilot, Kreon als General eines afrikanischen Kleinstaates, Oronte als Anführer einer Freischärlertruppe. Und die Damen und Herren des
Chœur du Grand Théâtre mimen mit ihren Gala-Gewändern die Upper Class der heutigen Zeit. Überhaupt wird der Ernst der Haupthandlung immer wieder wohltuend aufgebrochen, nicht zuletzt durch die von Lynn Page beigesteuerten choreografischen Elemente.

Beim Orchester und beim Dirigenten greift man in Genf auf die Besetzung zurück, mit der man bereits mit «Il Giasone» Erfolg hatte. Wiederum dirigiert Leonardo García Alarcón die Cappella Mediterranea. Und auch diesmal bereiten das Originalklang-Ensemble und sein Gründer und Leiter viel Freude. So fragt man sich nach der Aufführung einmal mehr, warum «Médée» nicht häufiger aufgeführt wird.

Mehr Feuer!

An der Musik kann es nicht liegen. Charpentiers Partitur besteht aus Rezitativen, Arien, Duetten, Chören und Instrumentalstücken. Die Formen sind sehr kleingliedrig und abwechslungsreich, schnell geht das eine in das andere über, und es herrscht noch nicht jene gewisse Stereotypie der Formen, wie sie sich in der Oper des 18. Jahrhunderts herausgebildet hat. Gerade die Rezitative sind sehr originell komponiert, bald nur vom Generalbass, bald auch von Melodieinstrumenten begleitet, bald rhythmisch frei, bald metrisch gebunden. Die Generalbassgruppe des Ensembles mit Theorbe, Gitarre, Fagott, Violone, Cembalo und Orgel realisiert die konkrete Umsetzung der bezifferten Bassstimme meisterlich.

García Alarcóns Interpretation der Oper ist insgesamt sehr gekonnt, sorgfältig, mit viel Liebe zu den Details. Nur fehlt ihr manchmal – trotz Donnergrollen und Windmaschine – die Entgrenzung und das Feuer, welches Andrea Marcon und das Orchester La Cetra vor vier Jahren am Theater Basel entfacht haben. Die vier Stunden der Genfer Aufführung ziehen sich deshalb mitunter doch etwas in die Länge.

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