Üben für das Autodafé: In König Philipps Reich werden schon die Kinder für Staatszwecke indoktriniert. (Bild: Matthias Baus / Staatsoper Stuttgart)

Üben für das Autodafé: In König Philipps Reich werden schon die Kinder für Staatszwecke indoktriniert. (Bild: Matthias Baus / Staatsoper Stuttgart)

Das Politische lauert im Privaten: «Don Carlos» in Stuttgart

Die Staatsoper Stuttgart eröffnet ihre Saison mit der fünfaktigen, französischen Langfassung von Verdis grosser Schiller-Oper – warum nicht immer so, fragt man sich nach der umjubelten Premiere.

Tobias Gerosa, Stuttgart
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Fast fünf Stunden lang bleibt die Bühne im Opernhaus Stuttgart – leer. Eine stumpfwinklige Wand schafft eine schmale Spielfläche vor dem Orchestergraben; dann sorgt sie, nach hinten gedreht, für eine akustisch günstige grosse, leere Fläche; nur wenn sie auf der Seite steht, macht sie den Sängern das Leben etwas schwer. Christof Hetzer, verantwortlich für Bühnenbild und Kostüme, hat Verdis «Don Carlos» zur Saisoneröffnung in Stuttgart radikal entrümpelt.

Zeichenhaft erscheinen nach Drehungen der Wand, die wie Blenden wirken, einmal ein Tisch, einmal eine Treppe und zweimal ein Doppelbett. Eine Menge zwielichtiger Theaternebel, geschickte Lichtführung und ein klares Kostümbild: Mehr braucht die Regisseurin Lotte de Beer nicht, um einen über weite Strecken nicht nur schlüssigen, sondern packenden Abend zu gestalten – auch, weil sie auf eine ausgesucht gute Besetzung und ihre genaue Personenführung bauen kann. So einfach kann Oper sein. Und so wirkungsvoll.

Handy und Handwaschfimmel

Auf den ersten Blick sieht diese Inszenierung durchaus etwas konventionell aus, sie verlangt den Darstellern vordergründig keine Extremleistungen ab. Aber wie genau die einzelnen Figuren gezeichnet und wie gezielt Zeichen gesetzt werden, das überzeugt gerade durch die Unaufgeregtheit: Da dient dasselbe Bett für Elisabeth und Carlos wie später für Philipp und Eboli; der König pflegt einen Handwaschfimmel, den er im Autodafé geradezu rituell zelebriert; Handy und Memorystick ersetzen Schmuckschatulle und Briefe und bilden wiederum einen beredten Kontrast zu den Lanzen der als Batman-Figuren überzeichneten Soldaten.

In ihrer Kritik an der allgegenwärtigen Gewalt der Macht wird Lotte de Beer in ihrer Inszenierung deutlich. Der spanische Hof ist eine aseptische Welt, in der das strahlende Weiss überdecken soll, wie skrupellos hier um Macht und Einfluss gekämpft wird – sogar vom dandyhaften Posa, den Björn Bürger mit betörenden vokalen Linien gestaltet, die Figur aber auf spannende Weise im Ungefähren hält.

Musikalische Übermalung

Bevor im dritten Akt die grosse Staatsaktion beginnt, bereitet Lotte de Beer die Verbrennung der Ketzer zur sonst oft gestrichenen Ballettmusik szenisch vor: Es gibt keine Tänzer, aber Kinder, die alle grausigen Stationen von der Anklage über das peinliche Verhör bis zum Anzünden ihrer Puppen schon einmal im finsteren Spiel üben. Stuttgarts Generalmusikdirektor Cornelius Meister nimmt dieses schmerzhafte Bild musikalisch auf, indem er den letzten Satz der Ballettmusik nicht in Verdis Original, sondern in der modernen Überschreibung «Pussy-(r)-Polka» von Gerhard E. Winkler spielt. Sie ist den russischen Aktivistinnen von Pussy Riot gewidmet und nimmt das Original fast vollständig auf, verfremdet es aber, macht es ungemütlich – das passt so gut, dass man es in szenischer Version kaum mehr anders hören möchte.

Die Toten verfolgen die Lebenden bis in den Schlaf: Szene aus dem Stuttgarter «Don Carlos». (Bild: Matthias Baus / Staatsoper Stuttgart)

Die Toten verfolgen die Lebenden bis in den Schlaf: Szene aus dem Stuttgarter «Don Carlos». (Bild: Matthias Baus / Staatsoper Stuttgart)

Denn diese staatliche Hinrichtungsaktion ist in jeder Hinsicht hochnotpeinlich. Das Volk wird als tumbe Masse zum Jubeln herbeigezwungen, der Inquisitor hält alle Fäden in der Hand. Falk Struckmann ist kein blinder Greis, sondern steht voll im Saft, nicht nur mit perfekt schneidender, mühelos in die Tiefe dringender Stimme, sondern auch szenisch: als widerlich schmieriger Intrigant, der den König mit langem, innigem Bruderkuss anwidert und die Todeskandidaten alle einzeln noch lüstern streichelt.

Ensemble als Kern

De Beers dichtes Machtkonzept lässt den Sängern gleichwohl genügend Raum, damit sie sich auch vokal entfalten können – und Stuttgarts Generalmusikdirektor Cornelius Meister fordert und fördert sie gleichermassen, ebenso das Orchester. Nichts klingt da nach Begleitroutine, die Musik ist stets nah an den Figuren und an der Szene. Das führt manchmal zu einem Überdruck, auch zwischen Bühne und Graben wackelt es noch gelegentlich, und wenn sich Meister bisweilen ähnlich zurücknähme wie de Beer in ihrer Regie, könnten die Sänger auch stimmlich noch mehr differenzieren – so, wie es die hochgefährliche Ksenia Dudnikova als Prinzessin Eboli vormacht, die man wahrlich nicht zur Feindin haben möchte.

Und schliesslich gibt es in der Gestalt von Olga Busuioc als Elisabeth noch eine veritable Entdeckung zu feiern: Mühelos flutet die Sopranistin das grosse Stuttgarter Haus; noch viel eindringlicher wird sie indes, wenn sie ihre Trauer, wie im grossen Schlussbild, ganz ins Innere und Persönliche wendet. Darum geht es schliesslich in dieser todtraurigen Oper, in der das Private politisch wird und das Politische alles Private zerstört. Das wirkt im Jahr 2019 vielleicht noch gegenwärtiger als zu Verdis Zeiten.