Don Giovanni ist ein Enigma. Um nur wenige literarische Stoffe ranken sich so viele Mythen, wie um den Frauenhelden von Sevilla. Unzählige literarische Vorlagen, Verfilmungen, mehrere Opern, usw. inspirierte diese Person. Doch wer war Don Giovanni und was hat es mit der Faszination auf sich, die von ihm ausgeht und die alle Personen um ihn herum in den Bann zieht? Und was bleibt heute davon übrig? Ist er ein Faszinosum oder abschreckendes Beispiel?

Mit dieser Frage beschäftigt sich auch das Regieteam um Jan Bosse and der Staatsoper Hamburg und scheint letztlich zu keinem vernünftigen Schluss zu kommen. Stattdessen thematisiert er das ständige Ringen mit Liebe und Tod – zugleich zentrales Element der Inszenierung und ständiger Antrieb Don Giovannis. Er wird zum Getriebenen – Täter und Opfer zugleich und ganz dem Donjuanismus verfallen.

Bosse fügt der Handlung eine weitere stumme Person hinzu. Der „Amor/Tod“ – verkörpert von der Schauspielerin Anne Müller – stellt eine Art Eros und Thanatos dar. Ein androgyner Todesengel im weißen Dreiteiler, stets um die Figuren kreisend und mitunter deren Handeln beeinflussend. Wahrlich „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Und Don Giovanni, nur von Liebesgier und Jenseitssehnsucht angetrieben, reißt alle mit sich hinab – sei es in den Tod oder in tiefe Verzweiflung.

Bereits zur Ouvertüre kriecht die blasse Figur in einer Videoprojektion über den Vorhang. Als dieser sich schließlich öffnet, gibt er den Blick frei auf das von Stéphane Laimé konzipierte Bühnenbild: Eine Drehbühne mit in sich verschachtelten runden und halbrunden Fassaden: heruntergekommen, an denen der Putz bröckelt und dessen vergangenen Charme man kaum erahnen kann. Diese Wände drehen sich nahezu ununterbrochen und lassen hinter die Fassaden auf ein ebenso geschmackloses Interieur blicken: Silberne Lamévorhänge und Lametta in rauen Mengen, die nicht nur die Wände, sondern auch Kostüme der Sänger „schmücken“.

Statt origineller Ideen kommt diese Inszenierung als blasses Potpourri vergangener Don Giovanni-Produktionen daher. Die sich drehenden, bröckelnden Fassaden, der personifizierte Tod, Leporello im Jogginganzug – all das ist nichts Neues und so wundert es auch nicht, dass Jan Bosse es nicht gelingt, den zeitenüberdauernden Charakter Don Giovannis in ein anderes Licht zu rücken. Auf neue Sichtweisen wartet man vergebens und so bleibt diese Interpretation seicht und vorhersehbar, die Charaktere unglaubwürdig, wenig stimmig und banal. Geradezu überfrachtet stören die unablässigen Videoprojektionen, ohne eine weitere Deutungsebene hinzufügen, stattdessen vielmehr von der inkonsequenten Personenregie ablenken.

Bosses Charakterzeichnung ist in ihrer Ausführung unentschlossen. Trotz seiner Erfahrung als Theaterregisseur sind es vor allem die nur oberflächlich agierenden Sänger, die Enttäuschung in der szenischen Umsetzung hervorrufen. Auf inkonsequente Weise, wie Fähnchen im Wind, ändern alle Figuren regelmäßig ihre Meinung zur Hauptfigur: eben noch aversiv, erliegen sie sogleich wieder Giovannis Charme.

Während sich Donna Anna (von Julia Kleiters bezaubernd hellem und warmen Sopran gesungen) nicht so recht entscheiden kann, ob sie Don Giovanni lieben oder hassen soll, bleibt auch ihr Verhältnis zu Don Ottavio (mit klangschöner, weicher Tenorstimme von Dovlet Nurgeldiyev gesungen) ambivalent. In jugendlicher Naivität weiß Zerlina als Objekt der Begierde nicht so recht, wie ihr geschieht. Anna Lucia Richter spielte ihre Rolle mit detailreichem Witz und charmanter Kühnheit. Ihr strahlender Sopran erklang hell aber voluminös. Die Donna Elvira von Federica Lombardi glänzte mit stimmlich ausgereiftem Sopran und einem angenehmen Vibrato. Kyle Ketelsen war ein durchwegs ausdrucksstarker Leporello mit kerniger Baritonstimme.

Allein André Schuen als Don Giovanni bleibt in seiner Rücksichtslosigkeit und seinem hedonistischen Egoismus konsequent. Bis zuletzt zeigt der Erotomane keine Reue und lieferte so zumindest eine überzeugende Verkörperung als uneinsichtiger Wüstling. Auch stimmlich verkörperte er den jungen, attraktiven Frauenhelden überzeugend mit viriler und kraftvoller, aber dennoch warmer Baritonstimme.

Während dieser Don Giovanni szenisch auf der Strecke bleibt, gibt es über die musikalische Ausführung keine Bedenken. Im Graben zauberte Ádám Fischer trotz kleiner Orchesterbesetzung einen vollen, runden Klang. Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg spielte einen meisterhaft virtuosen und flüssigen Mozart. Ohne Tempiwechsel war die Interpretation dynamisch gefestigt und verzichtete auf Spielereien. Fischer schöpfte aus dem Vollen und sein klassischer aber frischer Mozart war somit das unangefochtene Highlight des Abends.

Mit der Höllenfahrt endet die Oper. Die Inszenierung lässt die scena ultima mit dem Ensemble weg. Und der Amor/Tod zum Alter Ego Don Giovannis. Mit blutunterlaufenen Augen, weit aufgerissenen Mund, zähnefletschend, greift er nach ihm und zieht ihn letztlich hinab in die Tiefe. Der Kampf, das Ringen mit sich selbst, hat ein Ende, doch Don Giovanni bleibt reuelos und uneinsichtig bis zum Schluss.

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