Zu Beginn der Inszenierung an der Oper Stuttgart fühlt sich der Zuschauer in einen Loriot-Film versetzt. Schauplatz: die Schlafzimmerabteilung eines Möbelhauses Typ Ikea. Allenthalben probieren die unterschiedlichsten Gestalten die Qualität der Matratzen aus, Figaro und Susanna dagegen messen die Größe des Bettes aus – so will es der Beginn der Oper, in dem die genauen Zentimeterangaben zitiert werden. Hier hält sich Regisseurin Christiane Pohle genau an das Libretto, was sich nicht unbedingt von der ganzen Inszenierung sagen lässt.

Das Bühnenbild ist brillant, schließlich haben in dieser Oper nahezu alle Figuren nur ein Ziel: mit irgendjemandem ins Bett zu steigen. Die ganze Oper über bestimmt dieser Einfall das Setting, das aus mehreren jener normierten Wohnkabinette besteht, die man von unseren Möbelhäusern kennt. Durch ständiges Verschieben werden so die Schauplätze verändert, zugleich ist dies ein symbolischer Verweis darauf, dass es in dieser Oper kaum feste Bezugspunkte für die Figuren gibt – es ist ein ständiges Bäumchen-wechsel-dich-Spiel.

Doch hapert es bereits hier an der Logik und Konsequenz, denn eigentlich werden in diesem ersten Akt intime Details abgehandelt, und wenn der Graf im Pyjama auftaucht, entbehrt das jeder Psychologie. Auch wenn es Regisseure heute ungern hören: Das, was Librettist Lorenzo Da Ponte den Sängern an Text in den Mund legt, ist so präzise, dass man sich daran halten sollte. Das gilt für die Szene, in der der ewig verliebte Cherubino als Frau verkleidet werden soll, ebenso wie für die, in der Marcellina in Figaro ihren verschollenen Sohn erkennt und ihn umarmen will. Wenn in einer solchen Szene die Figuren meterweit voneinander entfernt stehen, fragt man sich als Zuschauer, welchen Operntext die Regisseurin gelten ließ. Will der Graf im zweiten Akt eine verschlossene Zimmertür gewaltsam öffnen, weil er dahinter den Geliebten seiner Frau vermutet, dann findet er in dieser Inszenierung irgendeinen Weg, von hinten in das Zimmer zu gelangen. Auf diese Weise wird die subtile Ironie dieser Szene zunichte gemacht.

Dabei gelingen der Regisseurin auch brillante Einfälle. Wenn Figaro seiner Susanna einen Kuss gibt, gerät der Graf außer sich vor Eifersucht. Wenn Figaro dem zum Militärdienst abkommandierten Cherubino höhnisch empfiehlt, er möge das Kosen erst einmal vergessen, dann richtet er diese Worte in Richtung Graf, der ja seiner Susanna nachstellt – ein Einfall, der allerdings nur in den ersten zwei Zeilen dieser Arie durchgehalten wird.

Allerdings achtet man möglicherweise auf derlei Dinge nicht sonderlich, denn Michael Nagl gestaltete die Rolle des Figaro derart souverän, dass er, kaum ließ er seine Stimme ertönen, diese Szene beherrschte. Für ihn ist es ein Rollendebüt, doch erfüllte er die Rolle mit Substanz, Präsenz und einer sängerischen Brillanz, als habe er als Figaro schon auf allen Bühnen dieser Welt gestanden. Dasselbe gilt auch für seinen Konkurrenten in Sachen Susanna, den Grafen von Johannes Kammler. Es war gleichfalls ein Bühnendebüt, und trotzdem gelang eine Gratwanderung zwischen lächerlichem Schürzenjäger und ernstzunehmendem Chef des Hauses; stimmlich konnte er ebenso überzeugend eifersüchtige Wut und verliebtes Werben glaubhaft vermitteln. Dem stand Esther Dierkes als Susanna – ebenfalls ihre erste – nicht nach. Wie keck und souverän sie diese Rolle, die letztlich alle Fäden in der Hand hält, gestaltet hätte, zeigt ihre Art, jede Szene und jede Gesangsnummer perfekt auf die situativen Bedürfnisse hin auszudrücken. Das biedere Kostüm und die Figurenführung freilich entsprachen dieser gesanglichen Subtilität nur bedingt. Auch bei Diana Hallers Cherubino waren die jeweiligen Geschlechterrollenwechsel szenisch schwer nachzuvollziehen, dafür leistete sie diese Differenzierung stimmlich in jedem Takt. Allein wie sie in ihrer ersten Arie ihrer Verwirrung Ausdruck verlieh, weil sie nicht mehr weiß, was sie vor lauter ständiger Verliebtheit tun soll, war eine stimmliche und charakterisierende Meisterleistung; Spielwitz und gesangliche Perfektion ergaben hier eine perfekte Einheit. Und auch die Gräfin von Sarah-Jane Brandon überzeugte mit ihrer noblen, ob der chronischen Untreue ihres Mannes verständlichen Melancholie.

Musikalisch ist diese Produktion ein reines Fest, woran nicht zuletzt Dirigent Roland Kluttig einen wesentlichen Anteil hatte. Bereits in der Ouvertüre, die er rasant, aber nicht hektisch dirigierte, faszinierte er durch situative Dramatik als Vorschau auf das, was in der Oper folgt. Selten hörte man so pointiert die von Mozart so geliebten Holzbläser. Dabei wagte er durchaus auch kühne Tempi. In der erwähnten Arie des Cherubino, wenn die Figur elegisch darüber nachsinnt, nur noch zu sich selbst zu sprechen, drosselte er das Tempo fast bis zum Stillstand, so als wäre dies für diese junge, ständig von Verliebtheit getriebene Figur das Ende. Wie Diana Haller hier in perfekter Stimmschönheit fast in Selbstmitleid erstirbt, ist eine Charakterstudie sondergleichen in nur wenigen Sekunden. Und am Ende erweist sich der Dirigent gar als derjenige, der die Botschaft dieser Oper am deutlichsten macht: Wenn der Graf seine Frau um Vergebung bittet und sie ihm diese gewährt, nimmt Kluttig das Tempo derart zurück, als wolle er die Zeit bei dieser Formulierung am liebsten anhalten. Darauf schließt sich ein Chor aller Beteiligten an, mit dem sie fröhlich zum Hochzeitsfest eilen wollen – ein scheinbares Happy End, das angesichts dessen, was in den vier Akten zuvor geschah, unglaubwürdig ist. Kluttig dirigierte es martialisch wie eine Kriegserklärung – so kann die Deutung einer Oper aus dem Orchestergraben kommen.

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