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Foto: Matthias Jung
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Emotionen, zum Greifen nah – Alessandro Scarlattis „Kain und Abel“ in Essen

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Über 170 Inszenierungen hat Regisseur Dietrich W. Hilsdorf inzwischen vorgelegt – allein 19 Opernproduktionen konnte er bislang am Essener Aalto-Theater realisieren. Am vergangenen Wochenende präsentierte er seine Nummer Zwanzig mit Alessandro Scarlattis „Kain und Abel“. Erst kürzlich war das Oratorium in szenischen Umsetzungen in Paris und Berlin zu erleben. Nun also Essen.

Im Garten Eden war alles so wunderbar, so friedlich, so harmonisch. So schön, wie der Stevie-Wonder-Titel „The first Garden“, mit dem im Essener Aalto-Theater bei noch hochgefahrenem Eisernen Vorhang der krasse Kontrast zu dem verbreitet wird, was dann 140 Minuten lang die Bühne beherrscht: „Il Primo Umicidio ovvero Caino“! Es ist die biblische Geschichte von Kain und Abel und von ihren Eltern Adam und Eva nach deren Sündenfall. Gott verjagt sie deshalb bekanntlich aus dem Paradies.

Adam und Eva, Kain und Abel, Gott und Teufel – sie alle werden von Regisseur Dietrich W. Hilsdorf regelrecht eingesperrt in einen früher einmal prächtigen Barockspeisesaal. Der ist inzwischen arg heruntergekommen, die Risse in den Wänden sind notdürftig verputzt und der Spiegel über dem Kamin ist blind. In dieser morbiden Umgebung gelingt es Hilsdorf, dem Bühnenpersonal Leben einzuhauchen. Da ist eine Familie präsent, die von Ängsten, Wünschen und Hoffnungen geprägt ist und geleitet wird. Nur der gestrenge Gott ist bisweilen sogar zum Scherzen aufgelegt und schäkert mit dem Teufel. Ganz wie in der Bibel hat auch hier das Paradies durch den Sündenfall schon gelitten.

Was aber geht ab in dieser „Geschlossenen Gesellschaft“? Jeder hat den anderen scharf im Blick. An der Oberfläche herrscht Eintracht, aber im Untergrund brodelt ein Vulkan, der sich schließlich im Mord entlädt. Angestachelt vom Teufel erschlägt Kain seinen Bruder Abel mit einem Stein.

Und wie immer in einem Werk des Barock kommen auch bei Alessandro Scarlatti Emotionen in der Musik geradezu zum Greifen nah. Da erweist sich der neapolitanische Komponist als wirklicher Meister seines Faches. So schön, so vielfältig sind seine Arien und Duette, dass man sich nicht satthören kann am überreich bestückten Füllhorn. Gut zwei Stunden vergehen da wie im Fluge.

Dafür sorgt auch Rubén Dubrovsky am Dirigentenpult. Mit Mitgliedern der Essener Philharmoniker zeigt er, dass es nicht unbedingt eines reinen Spezialistenensembles bedarf, um Barockmusik spannungsreich und delikat ins Publikum zu tragen.

Noch besser dann, wenn man über ein Ensemble verfügt, das sängerisch in der Lage ist, eine glänzende Perle nach der anderen funkeln zu lassen: Baurzhan Anderzhanov als wendiger Teufel, Tamara Banješević und Dmitry Ivanchey als herzzerreißend trauernde Eltern und Xavier Sabata als furios rächender und balsamisch tröstender Gott schaffen das. Sopranist Philipp Mathmann als Opfer Abel und Bettina Ranch als unglücklicher Mörder Kain bilden stimmlich aparte Gegensätze. Mathmann als männlichem Sopran dürfte das Publikum an diesem Abend besondere Aufmerksamkeit gewidmet haben. Immerhin hat er im Vergleich zu seinen Kollegen im Countertenor-Fach noch eine Quarte mehr an Höhe zu bieten. Was allein noch überhaupt kein Qualitätsmerkmal ist. Doch Mathmann beherrscht seine Stimme mit bemerkenswerter Sicherheit, raumgreifender Fülle und verströmt klanglich pure Schönheit.

Am Ende sind Adam und Eva praktisch kinderlos: der eine Sohn ermordet, der andere ins Nirwana verbannt. Also keine Zukunft mehr, Ende der Menschheitsgeschichte? Natürlich nicht, denn Gott kündigt die Ankunft seines Sohnes an, woraufhin der Teufel ein Kruzifix an die Wand nagelt. Mit einem Augenzwinkern also beendet Regisseur Dietrich Hilsdorf ein barockes Oratorium, das zwischenzeitlich sowohl psychologisches Kammerspiel als auch Krimi war. Absolut hörens- und sehenswert.

  • Weitere Termine: 30. 1., 20. und 29. 2., 4., 8., 13. und 20. März, 3. Mai

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