Krisenmomente scheint es in der russischen Geschichte zuhauf zu geben – die Geschehnisse um den Zaren und Usurpator Boris Godunow und das Ende der Sowjetunion wirken darin nur wie zwei zufällig ausgewählte Ereignisse. Doch zeugen sie durchaus von Gemeinsamkeiten und sind im Kern Fallbeispiele gescheiterter Systeme in Zeiten politischer Umbrüche zwischen Idealismus und Identitätssuche aber auch Machtmissbrauch und Irreführung des Volks.

Während Boris Godunows Leben über 400 Jahre zurückliegt, ist das Ende der Sowjetunion seit kaum 30 Jahren Vergangenheit. Mit dieser jüngsten Geschichte beschäftigt sich Swetlana Alexijewitschs 2013 erschienener dokumentarischer Roman Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus – einer Art russisch-sowjetischen Chronik die von der Sowjetunion als Zeit der gebrauchten Worte und Ideen aus „zweiter Hand“ berichtet und deren Zeitzeugenberichte in etwa 20 Jahren von der Autorin zusammengetragen wurden.

Entsprechend dem von ihr begründeten Genre des „Romans der Stimmen“ lässt sie jene Menschen zu Wort kommen – verleiht ihnen eine Stimme – die sonst nicht gehört werden und zeichnet so ein ergreifendes Bild vom Untergang des „roten Imperiums“. Sechs dieser Zeitzeugenberichte werden mit den sieben Bildern aus Godunows Leben (die Oper Stuttgart spielt die Urfassung von 1869) verwoben und bilden so die Oper Boris, ein Gesamtkunstwerk, welches die Auswirkungen des Zerfalls von politischen Systemen untersucht.

Der russische Komponist Sergej Newski vertonte Alexijewitschs Szenen ergänzend zu Modest Mussorgskis Boris Godunow und lässt unter anderem eine Aktivistin, einen Obdachlosen und eine Geflüchtete zu Wort kommen, deren Schicksale ebenso unterschiedlich wie erschreckend, aber alle wahr und erlebt sind. Diese Chronik kollektiver Erinnerungen beschreibt auf prägnante Weise die Orientierungslosigkeit, die Ohnmacht vorm hereinbrechenden Kapitalismus und die daraus resultierenden Konflikte und Spaltung der Gesellschaft. Alexijewitsch thematisiert zudem Armut, Traumata, politischen Terror und die Gewalt während des Kommunismus – ihre Zeitzeugenberichte bewegen sich zwischen Endzeit- und Umbruchstimmung, zwischen Hoffnung und Ernüchterung.

Boris ist das Resultat zweier eigenständiger Musiksprachen aber einer gemeinsamen, fließend ineinander übergehenden Bildsprache. Bereits vor Beginn der Oper werden die Zuschauer mit unbehaglicher Musik, geradezu lynchesken Klängen, im Saal begrüßt. Die surrealistisch grotesken Videoprojektionen von Vincent Stefan ergänzen die Atmosphäre der Produktion unter der Regie von Paul-Georg Dittrich. Auf einem Rundumbildschirm über der Bühne flimmert mosaikartig eine visualisierte Geschichte Russlands: stalinistische Säuberungen, Perestroika, Marxsche Kapitalismuskritik, aber auch Bilder von Ronald Reagan und der Anschläge des 11. September, die die Verschwörungstheoretiker erfreuen werden. Der Russe hat sich im Westen als Feindbild oft bewährt und muss auch in dieser Produktion wieder herhalten.

Kostüm und Bühne greifen tief in die sowjetische Trickkiste – eine mehrere Jahrzehnte umspannende Ästhetik, geprägt von neu interpretierten traditionellen Kostümen, über angedeuteter Brutalismus-Architektur der Nachkriegszeit, bis hin zur orthodoxen Ikonenmalerei – alles findet seinen Platz auf der Bühne. Darüber hinaus dürfen auch die übergroßen Köpfe aktueller und damaliger russischer Staatsmänner nicht fehlen: von Lenin über Gorbatschow bis Putin sind alle vor der goldenen Tür des Kreml versammelt, um ihr Schmiergeld einzusammeln. Dittrich setzt auf plakative Bilder und zugängliche Symbolik. Es verwundert daher nicht, dass auch Erdöl, das schwarze Gold Russlands und Rot als Farbe des Kommunismus, wichtige ästhetische Rollen spielen. Diese Inszenierung spielt mit den Klischees – und zwar allen.

Auch Swetlana Alexijewitschs Geschichten vermögen nicht ihre volle Wirkung zu erzielen, da sie mitunter stark gekürzt, nur fragmentarisch erzählt wurden. Es ist daher der musikalischen Präsenz der Sänger und des Orchesters zu verdanken, dass diese nicht im überbordenden Bühnenbild untergehen. Dirigent Titus Engel und das Staatsorchester Stuttgart spielten mit Präzision und lieferten ein spannendes Wechselspiel zwischen beiden Werken mit transparenter, aber monumentaler Interpretation. Der Chor trat markerschütternd, stimmlich perfekt und unglaublich intensiv auf.

Mit Adam Palka wurde ein recht junger Boris Godunow gefunden, der mit seiner schlanken, flexiblen Baritonstimme und klarer Artikulation anderen Interpreten dieser Rolle in nichts nachsteht; stattdessen offerierte er eine ungewohnte Rollengestaltung. Ebenso überzeugend trat Matthias Klink als schmierig intriganter Schuiski mit unnachahmlicher Bühnenpräsenz auf. Goran Jurićs voluminöser, souveräner Bass verlieh seiner Rolle als Mönch Pimen eindrucksvolle und emotionsreiche Tiefe.

Die Verzahnung der beiden Werke – in der Hoffnung eine Art Kuleschow-Effekt zu erzielen – erweist sich in der Theorie äußerst stimmig, führt aber in der Praxis zur Reizüberflutung. Dittrich scheint alles zu wollen, über 400 Jahre russische Geschichte in drei Stunden zu erzählen. Statt erhellender Erkenntnisse ruft dies aber eher Kopfschmerzen hervor und ein Unvermögen, die Vielzahl der Eindrücke wahrzunehmen. Visuell und dramatisch wird man geradezu erschlagen und überfordert, bedauernswerterweise auf Kosten der Zeitzeugenberichte aus Alexijewitschs Roman. Diese kommen oft zu kurz. Deren Geschichten und Erinnerungen können sich nicht entfalten, können nicht atmen und werden stattdessen erdrückt von der schieren Masse an Sowjet-Symbolik, die sich diese Produktion hat einfallen lassen. Dabei sind es gerade die Erzählungen aus Secondhand-Zeit, die in ihrer erschütternden Wahrhaftigkeit den bleibendsten Eindruck hinterlassen könnten.

***11