Es ist zwar von einer Wanderung die Rede, doch epische Züge hat Schuberts Winterreise nicht. Es sind lyrische Bilder, die der Dichter Wilhelm Müller ausdachte, und Schubert hat sie in musikalische Bilder überführt, mal von der Außenwelt, in der die Bürger ruhig in ihren Betten schlafen, derweil die Hunde an ihren Ketten zerren, viel häufiger jedoch verweisen diese Außenbilder auf die Seelenqualen des Protagonisten.

Insofern war es ein guter Einfall, für eine szenische Präsentation dieses Zyklus einen Videokünstler wie den Niederländer Aernout Mik zu beauftragen, dessen Werk gleichfalls weniger erzählend als vielmehr aus oft disparaten Bildern komponiert ist. So blitzen auf drei Leinwänden über dem Orchester, das die orchestrale Interpretation von Hans Zender und nicht den im Konzert üblichen Schubertschen Klavierpart gestaltet, immer wieder Kurzszenen auf, die – gelegentlich in ironischer Brechung – die einzelnen Lieder kommentieren. So wird bei der andeutungsweise hoffnungsvollen Vision unter dem Lindenbaum der Bau der Twin Towers gezeigt, denen wie denTräumen in Müllers Gedicht und Schuberts Komposition keine gute Zukunft beschieden sein sollte.

Die Videoszenen folgen einem genau ausgeklügelten Plan. So zeugen die ersten Bilder vom Urgrund des Seins (Weltall und Zellstrukturen). Dieser Blick weitet sich alsbald auf die Gesellschaft aus – Szenen von der Loveparade, von Demonstrationen in Paris, dem Run auf den Schlussverkauf, um schließlich im Stuttgarter Opernhaus zu landen, bei den Musikern, die nach der Probe durch das Haus schlendern, bis hin zum aktuellen Publikum, das – in Farbe im Kontrast zu den durchweg schwarzweißen Filmen – am Ende eingeblendet wird. Die Massenszenen kann man deuten als Aufgabe des Individuums in der modernen Gesellschaft, doch zur Erhellung des Lebens im allgemeinen, der Winterreise und dessen, der diese Reise zu den Worten von Müller und den Tönen von Schubert und Zender unternimmt, tragen sie wenig bei. 

Ganz anders das ebenfalls von Mik konzipierte „Bühnenbild“, denn die Winterreise wird zwar nicht als Opernhandlung geboten, was sie nicht ist, sehr wohl aber als halbszenisches Gebilde, das dem Charakter der in Einzelbilder zerfallenden Komposition entspricht. Die Lämpchen an den Pulten der knapp dreißig Musiker gleißen grell und erinnern an das so oft angesprochene erstarrte winterliche Eis. Der Boden ist wie eine Landschaft mit Tiefen und Erhöhungen gestaltet, in der der Sänger mal auftaucht, mal verschwindet, irrlichternd ohne rechtes Ziel, ganz der Komposition entsprechend.

Matthias Klink ist ein grandioser Sängerdarsteller, der auch in den Kurzszenen seiner Liedauftritte charakterliche Substanz einer Figur kreieren kann. So irrt er in dieser kalten Welt umher ohne Ziel und ohne Hoffnung, sucht Halt in wechselnden Identitäten, indem er immer wieder die Kleidung wechselt. Vor allem macht er mit seiner Stimme die wachsende Verzweiflung dieses Heimatlosen spürbar deutlich, der nicht einmal im eigenen Ich Halt findet, dem seine Individualität zerfasert. Wie Klink, auf jeden falschen Wohlklang des Gesangs verzichtend, die Abgründe in diesen Seelenporträts gestaltet, überträgt sich unmittelbar auf den Zuschauer. Dabei krümmt sich sein Körper zerquält, reckt sich kurz zu trotzigem Aufbegehren auf, sinkt in sich zusammen. Hier bilden Körpersprache und Gesang eine nahtlose Einheit – und das setzt sich in Klinks Behandlung des Stimmparts zu Hans Zenders instrumentaler Begleitung fort, die mehr ist als nur Accompagnement, die wie auch Schuberts Klavierpart Teil dieser zerrissenen Welt ist. Zender lässt die Trommeln hauchen, die Windmaschine jaulen, die Holzbläser ins Leere hinein klagen. Dirigent Stefan Schreiber gelingt es, die einzelnen Instrumente in ihrer Eigenqualität brillieren zu lassen, bündelt sie aber immer auch zum Gesamtklang und entspricht damit perfekt den musikalisch-klanglichen Visionen von Hans Zenders „komponierter Interpretation“. Matthias Klink greift jede Nuance dieses Klangkosmos mit seiner Stimme auf, krächzt, singt legato, abgehackt, ganz wie Zenders Partitur es den Instrumenten vorgibt. So bewegt sich sein Gesang auf drei Ebenen – er deutet die Texte von Wilhelm Müller in jeder Nuance, lotet das musikalische Geschehen Schuberts aus und fügt sich nahtlos in Zenders Komposition ein.

Bei einer solchen Überlagerung von Strukturen und Sinngebungen sind die Videos von Mik freilich verzichtbar, da sie allenfalls von dem komplexen musikalischen Geschehen ablenken, das die volle Aufmerksamkeit benötigt. Was der Regisseur Mik mit seiner szenischen Gestaltung der Reise des Sängers durch die Instrumentenwelt gestaltet hat, hätte ausgereicht, und diese Reise ist musikalisch und gestisch ein Muss für jeden, der eindringliche musikalische Gestaltung auf der Bühne liebt und in Matthias Klink einen kongenialen Deuter sowohl der Texte als auch der Klangwelten von Schubert und Zender erleben kann.

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