Der «Goldene Hahn» schluckt die Augäpfel des Zaren, rülpst laut in die Generalpause, und das Lachen bleibt uns im Halse stecken

Mit rigidem Kunstwillen und ungewöhnlichen Stücken wie jüngst dem «Goldenen Hahn» von Rimski-Korsakow hat Serge Dorny Lyon zu einem Musiktheater-Hotspot gemacht. Demnächst tritt er als Intendant der Bayerischen Staatsoper an.

Eleonore Büning, Lyon
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Besser ein goldener Hahn auf dem Baum als ein König ohne Hosen: Szene aus «Le Coq d’Or» von Nikolai Rimski-Korsakow an der Opéra de Lyon.

Besser ein goldener Hahn auf dem Baum als ein König ohne Hosen: Szene aus «Le Coq d’Or» von Nikolai Rimski-Korsakow an der Opéra de Lyon.

Jean-Louis Fernandez

Um Pfingsten herum feierten die stillgelegten Opernhäuser europaweit Auferstehung. Es gab etliche Live-Premieren, flankiert von Pressemeldungen mit freudigen Wiederöffnungsabsichtserklärungen. Das Haus in Lyon aber blieb dunkel. Es wurde bestreikt, von Ausläufern der Gelbwesten-Bewegung. So kam es, dass die letzte Premiere der Ära Dorny, die jetzt schon Legende ist, ohne Publikum stattfand.

In den achtzehn Jahren seiner Amtszeit hat Serge Dorny mit seinem rigiden Kunstwillen und durchwegs unkonventionellen Spielplänen dafür gesorgt, dass die Opéra de Lyon sich von einer mittleren Provinzbühne zum Mekka der Opern-Aficionados entwickelte – und zugleich zu einer Attraktion für die örtliche Jugend. Reisende aus aller Welt gaben sich hier regelmässig ein Stelldichein mit jungen Hip-Hoppern aus der Region. Beim Finale sind nun aber nur ein paar erschöpfte Mitarbeiter des Hauses anwesend, dazu eine Handvoll Kritiker. Und natürlich: die Kameras. Totenstill bleibt es sonst in den nachtschwarzen Foyers von Jean Nouvel.

Auch auf der Bühne nichts als Dämmerung. Nie wird es richtig hell. Schatten wachsen an den Wänden. Chimären kommen und gehen, sie verstecken sich in totem Strandhafer, an kahler Küste. Doch im Kontrast zur Kaputtheit dieser vom Regisseur Barrie Kosky und seinem Bühnenbildner Rufus Didwiszus entworfenen Einheitsszenerie funkelt die Musik. Sie strahlt, prahlt, und sie kräht.

Jede Menge tote Zaren

Schnurgeradeaus dirigiert der junge Lyoner Musikchef Daniele Rustioni die Wunschkonzert-Ouvertüre zum «Goldenen Hahn» alias «Le Coq d’Or». Steile Trompetenfontänen steigen aus dem Graben, es jubeln die Geigen, schmusen Flöten, meckern Oboen. Mit geradezu hypertrophem Folklore-Glanz hat Nikolai Rimski-Korsakow diese Oper ausgestattet, phantastisch instrumentiert. Er schrieb sie im Blutjahr 1905, als Zar Nikolaus II. gegen das eigene Volk mehr Truppen mobilisierte als zuvor im gesamten russisch-japanischen Krieg.

In der Regie von Barrie Kosky und im Bühnenbild von Rufus Didwiszus tummeln sich allerlei surreale Gestalten.

In der Regie von Barrie Kosky und im Bühnenbild von Rufus Didwiszus tummeln sich allerlei surreale Gestalten.

Jean-Louis Fernandez

Die Partitur zu dem Stück, komponiert nach einer Fabel von Puschkin, schmückt sich demonstrativ mit altrussischen Zitaten. Sie ist gespickt mit rhythmisch markanten, signalhaften Leitmotiven, serviert aufmunternde Parademärsche und liebliche Wiegenlieder, kraftvolle Chöre, lüsterne Orientalismen. Genutzt hat das nicht viel, die Zensur schlug trotzdem zu. Sie verhinderte zunächst und kastrierte dann kräftig die Uraufführung des «Goldenen Hahns», was Rimsky selbst allerdings nicht mehr erlebte. Aber vorausgesehen hat. Schliesslich liegen in dieser seiner letzten Märchenoper am Ende jede Menge tote Zaren herum, ein Vorschein naher Zukunft.

Die Bojarenschaft kopflos, das Volk ratlos, alle Orakel in Luft aufgelöst und der magische Vogel, der Sieg und Frieden versprach, für immer entflogen: Diese Botschaft ist – egal, ob man «Le Coq d’Or» nun als aktuelle politische Parabel anrührt oder als ein pittoreskes Traumspiel in historische Ferne entrückt – auf jeden Fall keine gute. Von Anfang an lauern Abgründe auch hinter der musikalischen Prachtentfaltung, die in ihrer demonstrativ überzeichneten Diesseitigkeit und Wiederholungswut dem Zuhörer im Lauf von immerhin drei Akten ganz schön auf den Wecker gehen kann. «Das Wesen der Musiziersphäre» russischer Volksopern, so brachte es einmal die Dramaturgin Sigrid Neef auf den Begriff, sei das affirmative Volksmusik-Zitat – und diese Zitate wirkten wie ein «Schild, hinter dem sich der verwesende Leichnam versteckt». Dmitri Schostakowitsch hat in dieser Hinsicht viel von den Camouflage-Künsten Rimskis gelernt.

Auf Sand gebaut

Konsequent verzichtet die Lyoner Neuinszenierung, die eigentlich schon im vergangenen Sommer beim Festival in Aix-en-Provence ihre Premiere hätte erleben sollen, auf jedes Fitzelchen Folklore. Als ein armer Irrer in Unterhosen, wohl ein Vetter vom jüngsten Münchner König Lear, geistert der greise Zar Dodon durch die wüste Strandlandschaft – kraftvoll gesungen von Dmitry Ulyanov. Seine Herrschaft ist auf Sand gebaut. Er ist allein. Der stichwortgebende General (Mischa Schelomianski) nebst Bojarenchor-Gefolgschaft ist entweder hinter die Bühne verbannt worden oder tanzt und turnt als pferdeköpfige Spielfigur durchs Schilf. Auch der Astrologe des Zaren, ein Kastrat, der ihm das Glücksversprechen des goldenen Hahns verschafft, kann sich nicht recht entscheiden, ob er Männchen oder Weibchen ist: Andrey Popov verleiht dieser pervers hohen, intonationsgefährdeten «Tenor-Altino»-Partie karikaturhafte Schärfe.

Später spielt der Zar Fussball mit den abgeschlagenen Köpfen seiner zänkischen Zarewitsch-Söhne, die er in aussichtslose Kriegsabenteuer geschickt hatte und deren Körper nun, wie Schlachtvieh, von dem toten Baum baumeln, auf dessen kahler Astspitze der blattgoldbemalte nackte Körper eines geschmeidigen Hahn-Tänzers balanciert. Treffsicher gesungen werden die spitzen Schreie des Orakels von Maria Nazarova.

Königin Schemacha (Nina Minasyan) bringt orientalisch-gleissende Chromatik in die russische Diatonik der Oper.

Königin Schemacha (Nina Minasyan) bringt orientalisch-gleissende Chromatik in die russische Diatonik der Oper.

Jean-Louis Fernandez

In Harfenklang gehüllt, mit Samt und Pfauenfedern geschmückt, taucht die Königin Schemacha alias Nina Minasyan auf, aus einer anderen Welt. Sie bringt orientalisch-gleissende Chromatik in die stur-russische Diatonik. Brillant ihr Gesang an die Sonne, endlos das Palaver der Verführung. Schliesslich pickt der Hahn den Zaren nicht einfach nur tot, wie Puschkin und Rimski es vorsehen. Er pickt ihm die Augen heraus, schluckt die Augäpfel herunter. In die Generalpause hinein hört man ihn zufrieden rülpsen. Erst lacht man. Dann erschrickt man sich. Schliesslich: Stille.

Demnächst in München

Das durchwegs russische Cast kann sich glücklich schätzen. Ob Rustioni, ein vorzüglicher Verdi-Dirigent, auch die russische Sprache beherrscht? Jedenfalls erweist er sich nicht nur als ein Klangzauberer, der selbst massiv aufrauschenden Tutti-Ballungen noch Transparenz einzieht; er ist auch ein feiner Sängerbegleiter in den idiomatisch-charakteristischen Parlando-Phrasen.

Sicher wird Serge Dorny, der Rustioni entdeckte, ihm auch weiterhin den Weg ebnen. Wie er selbst weiter- und klarkommen wird am grossen Haus der Bayerischen Staatsoper, wird international mit Spannung erwartet. Am 10. Juni will er die Pläne bekanntgeben für seine erste Münchner Spielzeit ab Herbst. Es geht langsam los, mit alten Bekannten und mit einer grossen russischen Oper.

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