Dmitri Tcherniakov zeigt Wagners „Fliegenden Holländer“ in Bayreuth als deutsches Psychodrama und wird ausgebuht.

Die Eröffnung der Bayreuther Festspiele war künstlerisch grandios und ein wenig erschreckend. In diesem Fall muss die Premiere von Richard Wagners „Der fliegende Holländer“ von hinten erzählt werden. Der abgrundtief böse Holländer schießt im dritten Akt mit seiner Pistole auf dem Marktplatz einige feiernde und protestierende Menschen ab, aber bevor er Senta ins Unglück ziehen kann, knallt ihn Sentas Amme Mary von hinten ab. Der in Wagners Opernwerk immer wieder beschworene deutsche Mythos, wonach männliche Erlösung nur durch irgendeine Vernichtung möglich wird, fällt aus. Unromantischerweise überlebt Senta. Und der seit Ewigkeiten durch die Weltmeere irrende Holländer ist nur ein sterblicher Frauenverschleißer, ein Scheißkerl. Das Publikum buhte den Regisseur Dmitri Tcherniakov am Ende aus. Der kommt noch einmal allein auf die Bühne und wird mit aggressiver Ablehnung empfangen. Der Moskauer lächelte dem Bayreuther Publikum entgegen als fühle er sich bestätigt.

Im Vorspann gibt es einen Hinweis auf Hitler

„Der sonderbare, immer wiederkehrende Traum des H.“ erscheint als Hinweis zu Beginn der Ouvertüre. Gezeigt wird auf der Bühne die Affäre von Daland mit einer jungen Frau. Er lässt sie fallen, sie wird von den Kleinstadtbewohnern geächtet und hängt sich auf. Ihr kleiner Junge bekommt alles mit. Im ersten Akt kehrt der erwachsen gewordene Sohn als Holländer zurück. Er hat ein Frauenproblem. Er will sich an der Welt rächen.

Jeder Regisseur, der erstmals nach Bayreuth kommt, muss sich mit Hitler, der sich dort von Wagners Opernmythen inspiriert fühlte, auseinandersetzen. Steht H. zu Opernbeginn nur für Holländer oder ist darin eine Anspielung auf Hitler versteckt? Es ist eine rhetorische Frage. Letzterer stammte aus schwierigen Familienverhältnissen in einer oberösterreichischen Kleinstadt. Er hatte Frauenprobleme. Seine von ihm in München im goldenen Käfig gehaltene Nichte Geli erschoss sich mit seiner Pistole. Eva Braun lebte auf dem Berghof fast versteckt. Hitlers Wahn vom Untergang bis in den Tod ist Weltkriegsgeschichte.

Die Opernhandlung ist in eine beschauliche Kleinstadt verlegt

Die neue Bayreuther „Holländer“-Inszenierung will die Wiederkehr des Verdrängten, einen Wiederholungszwang vorführen. Als sein eigener Bühnenbildner hat Tcherniakov die Handlung in eine ebenso spießige wie beschauliche Kleinstadt in der Gegenwart verlegt. Darin gibt es kein Schiffe oder Matrosen. Daland empfängt den Holländer in seinem kleinen Wintergarten, um ihn seiner Senta als Ehepartner vorzustellen.

Die Sängerbesetzung ist großartig bis atemberaubend, im Livestream kann man darüber hinaus sehen, wie die einzelnen Rollen bis ins Mimische hinein glaubwürdig ausgestaltet werden. Es gibt sogar Situationen voller lebensnaher Komik. In der Premiere spielt und singt die litauische Sopranistin Asmik Grigorian alle an die Wand. Die Bayreuth-Debütantin führt ihre Senta in selbstbewussten Facetten vor. Es geht weit über Opfersehnsucht hinaus. Die Blondine will dem Kleinstadt-Mief entkommen. Und dem nervigen Liebhaber Erik.

Erik ist ein Typ, der Frauen immer im Wege steht

Der Amerikaner Eric Cutler ist ein überaus sinnlicher und weniger ein Wagner-Tenor, der die schmalzige Umklammerung zelebriert. Man beginnt mit Senta mitzuleiden, denn Erik verlangt in schönsten Tönen ewige Treue, jammert ausdauernd sein Leid, hat ihr aber nichts zu bieten. Er ist der Typ, der Frauen immer im Wege steht. Er bekommt seine Ohrfeige. Asmik Grigorian kommt Wagners Senta, die nach einem spirituellen Lebensziel sucht, sehr nahe. Sentas Ballade führt die Sängerin in einen Rausch. Es ist der Höhepunkt der Premiere.

Eine gemütliche Spinnstube gibt es bei Tcherniakov nicht, die Frauen treffen sich zum gemeinsamen Singen auf dem Marktplatz. Überhaupt dreht sich alles um den Marktplatz herum, und die Drehbühne bringt zwischendurch die Kleinstadt in Schieflage. Daland ist ein gieriger Kneipenhändler, der seine Tochter an den reichen Fremden verschachert. Es ist eine fast komödiantische Szene, wenn der Bayreuther Publikumsliebling Georg Zeppenfeld als Daland und John Lundgren als Holländer umeinander herum schwadronieren. Lundgren ist ein imposanter Bariton, der leider zum Ende hin etwas schwächelt.

Das erfolgreiche Debüt der ersten Dirigentin in Bayreuth

Die Mary der Marina Prudenskaya wächst hier in das Format einer Hauptrolle. Sie beeindruckt sogar in der Szene im Wintergarten, in der sich eigentlich nur der Holländer und Senta etwas zu sagen haben. Die eiskalten Gefolgsleute des Holländers erscheinen am Ende leibhaftig auf der Bühne. Es ist eine gewaltbereite Truppe, die schließlich Häuser in Brand steckt. Der Holländer stirbt, Senta und Mary umarmen sich, zurück bleibt die trostlose, verwüstete Kleinstadt.

Gefeiert sah sich Oksana Lyniv, die erste Dirigentin in 145 Jahren Festspielgeschichte. Die 43-jährige Ukrainerin ging in ihrem Bayreuth-Debüt auf Nummer sicher und überzeugte durch eine lebhafte, zugleich kontrollierte Interpretation.