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Kultur Bayreuther Festspiele

Landkrimi nach skandinavischer Oberfrankenart

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Bayreuther Festspiele 2021 - Der fliegende Holländer Bayreuther Festspiele 2021 - Der fliegende Holländer
Fotoprobe „Der fliegende Holländer": Marina Prudenskaya (Mary, l-r), Eric Cutler (Erik), Asmik Grigorian (Senta) und der Chor
Quelle: dpa/Enrico Nawrath
Endlich wieder eine Bayreuther Festspielpremiere: Dimitry Tcherniakov verheddert sich gedanklich im „Fliegenden Holländer“, Oksana Lyniv dirigiert einen schneidigen, geschmeidigen Frühwagner.

So sehen eigentlich nordische Netflix-Serien aus. Ein kleines Dorf, freundlose Gassen, nackte Werksteinhäuser, karge Natur, Nebel. Man trinkt sich in der Kneipe das Leben schön, das von den Gezeiten bestimmt wird. Und allmählich enthüllt sich ein dunkles Familiengeheimnis, in das alle irgendwie hineingezogen wurden.

Hier, bei den Bayreuther Festspielen, wo einst Lars van Trier inszenieren sollte und jetzt spät doch noch eine Produktion im Dogma-Style nachgeholt wird, startet es schon mit den ersten Takten des „Fliegenden Holländer“. Den dirigiert, erstmals in der 145-jährigen Geschichte des Grünen Hügels, eine Frau: Oksana Lyniv. Und sie packt kräftig zu, lässt die Wogen gischten, die Stürme toben, die Naturgewalten ächzen. Ein tönendes Seegemälde der sehr, sehr plastischen Art, mit jähen Stimmungs- wie Tempowechseln. Das Orchester, straff gehalten, legt sich geschmeidig in die Klangkurven.

Kein Meer, keine Schiffe, aber wenigstens Gummistiefel und Parkas. Wir sehen den Traum des russischen Regisseurs Dmitri Tcherniakov. Den allerdings, den der, das macht er immer so, gleich mit ein paar hin projizierten Sätzen als den Traum des H., nennen wir ihn einfach Holländer, ausgibt. Wenn Tcherniakov Opern aus seiner Heimat interpretiert, dann tut er das gern als Mischung aus Folklore und Tiefenpsychologie, altmodischer Bebilderung und strikt moderner Interpretation. Das geht meist sehr gut auf. Wenn er Wagner inszeniert, „Parsifal“ oder „Tristan und Isolde“ an der Berliner Staatsoper bisher, dann werden die – er ist ja sein eigener Szenenbildner – jeglichen mythischen Beigeschmacks entkleidet und in ein geradlinig zeitgenössisches Ambiente gesteckt.

Und so startet jetzt Richard Wagner erste, in den Bayreuther Zehnerkanon aufgenommene, noch ganz „romantische Oper“ als atem- wie pausenloser Mystery Thriller, als Landkrimi nach skandinavischer Oberfrankenart mit nüchternen Baukastenhäuschen, Bogenlampen und Kirche. Daland, der Macker im Kaff, hat was mit der Mutter des Holländers. Als kleiner Junge muss der zusehen, wie der Dorfmächtige sie befingert und später auf die Erde schleudert. Als er sein Spielzeug über hat, lässt sie auch die Gemeinschaft fallen, sogar der Pfarrer. Sie hängt sich zum Erlösungsschluss der Ouvertüre an einem Ladekran auf. Ihr Junge sieht zu.

Und wenn dann nach zweieinhalb Stunden wieder eine Apotheose in Dur in den Harfen erklingt, dann hängt da aber nicht etwa Senta „treu dir bis zum Tod“ als strampelnder Sopranzombie am Hanfseil. Dann nimmt Dalands Tochter ihre Mutter oder Stiefmutter Mary (so genau wird das nicht erklärt) so verstört wie liebevoll in den Arm. Frauen müssen jetzt zusammenhalten: Denn Marys noch rauchende Flinte hat eben den Holländer erschossen, der selbst im Amoklauf der Rache für seine Mutter vorher Dorfbewohner niedergestreckt und dessen Mannen die Häuser angesteckt haben. Und irgendwo stehen ein fassungsloser Daland und der geohrfeigte Jäger Erik, der bis zuletzt um Sentas Zuneigung gerungen hat.

Also keine geopferten Mädchen, die sich für die Männer hingeben, sondern starke, aufmüpfige, selbst bestimmte Frauen, die zupacken, gegen die Wände anrennen, ein Hobby haben und auch mal Selbstjustiz üben. Die aber vor allem als angry Teenager raus wollen aus der Enge, der schwitzigen Nähe der vielen.

Asmik Grigorians Senta mit Fluppe und bunt gesträhntem Blondhaar, in Hosen und zu großem Anorak, spielt das ganzkörperlich voll aus, dehnt und streckt sich inmitten ihrer Geschlechtsgenossinnen, die da bei Mary in ihrem fancy Häkelmantel in der Damenchorprobe sitzen, und dem aufsässigen Gör zuhören. Während die famose Marina Prudenskaya mit Grauperücke, ähnlich wie der tumbe Bürgermeister in Lortzings „Zar und Zimmermann“, ihre Singmannschaft bei „Summ‘ und brumm‘, du gutes Rädchen“ zusammenzuhalten versucht. Nicht so weit hergeholt, die deutsche Spieloper wie die französische tragédie lyrique waren beides Vorbilder für den frühen Wagner.

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Dmitri Tcherniakov inszeniert das wunderbar körperlich, dicht, und unmittelbar, das kann er perfekt, so wie er auch das ewige Ringen umeinander zwischen Senta und dem hier deutlich aufgewerteten Erik, dem Eric Cutler Vehemenz, Opulenz und virilen Tenorstrahl schenkt, plastisch und bannend herausarbeitet. Man schaut gespannt zu, wenn der diesmal eben nicht gemütvolle, sondern extrem unsympathische Daland des toll basssatten und dabei fluid biegsamen Georg Zeppenfeld und der Holländer einander umschleichen und austarieren. Wer ist hier wohl das Alphatierchen?

John Lundgren, irgendwie kurzatmig, immer wieder eindrucksvoll düster, aber manchmal auch nur knarzig, scheint doch der Stärkere. Er wirkt gar nicht wie ein verfluchter, untoter Weltreisender, sondern sehr real als zurückkehrende Nemesis, der einfach so an der Bartheke sitzt und nach so mancher Lokalrunde brav die Rechnung begleicht. Tcherniakov spielt das so detailpusselig wie realistisch aus.

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So wie er auch das Erschrecken der Senta über den Anblick des Holländers im elterlichen Wintergarten genau trifft, und das anschließende Mittagessen als Quartett reaktionsinszeniert, obwohl es eigentlich ein Duett ist. Überhaupt hat Asmik Grigorian, noch eine Bayreuth-Debütantin, immer neue Vokalfärbungen und Stimmungsnuancierungen parat, mit denen sie in der Ballade, in den Zwiegesängen aufwartet. Körperlich eine Pubertierende, ist sie doch vokal ganz starke Frau, die Stimme, nicht wirklich harmonisch schön, aber klammerfest uns fesselnd. Zum Ende hin schreit sie, koloriert kaum noch, aber die Stringenz dieser Ausbrüche ist grandios wahrhaftig.

Während Oksana Lyniv im Graben unsichtbar nie nachlässt, strikt vorwärtsprescht, sich noch mehr Schönheit wie Verweilen leisten darf und soll, aber meist souverän die Klippen dieser instrumentalen Gewitter-und-Sturm-Fahrt aus fernem Wagner-Meer unter schwierigsten Umständen meistert. Schließlich muss sie auch noch die wegen der Pandemie-Hygienemaßnahmen aus dem Probensaal akustisch erstaunlich klangecht zugespielten, von Eberhard Friedrich bewährt einstudierten Chöre harmonisieren und integrieren. Was bis auf wenige Wackler befriedigend gelingt; zumal ja auf der Bühne eine zweite Chormannschaft aufopferungsvoll stumm, aber in jedem Körpermuskel professionell spielt.

Schön herausziseliert sind die Mittelstimmen, das atmosphärisch dauerbelebte Orchester klingt plastisch und luzide, kann den Ausbruch, den Tanz, das großbögige Duett und das fast nie auseinanderfallende Chortableau.

Also doch eine insgesamt spannende und spannungsvolle Aufführung, letztmalig in Anwesenheit von Kanzlerin Angela Merkel, auch wenn die Cliffhänger letztlich logisch nirgends hinführen, Richard Wagners Intentionen kaum oder gar nicht gefolgt wird. Weil wenig über Vorhersehung und Erlösung zu reflektieren ist, sondern das Recht auf Selbstjustiz szenisch diskutiert, aber eben nicht wirklich aufgelöst wird.

Ärgerlich bis unmöglich ist freilich, wie auf dem Bayreuther Festspielhügel, ohne jeden wirklichen gesundheitlichen Anlass und mit rigider, auch absurd aufwändiger Willkür, der bayerische Freistaat von Markus Söders Gnaden mit oft unlogischer Wucht in Bürgerrechte eingreift, den maskenvermummten Kultursuchenden zum Bittsteller degradiert, immer wieder viehhaft kontrolliert, ausspäht, in Reihe antreten lässt, lenkt und leiten möchte. Im Namen der Pandemie wird hier ohne Maß übertrieben, zurechtgestaucht und entmündigt. Geimpfte, getestete Bürger werden mit Bändchen versehen, von Polizeikohorten und Orderbrigaden gelenkt, können im Festspielhaus nicht auf die Toilette, haben untertänigst zu folgen und zu gehorchen, sehen sich beständig ihrer Bewegungsfreiheit beraubt.

Schon seit den Terrorereignissen vor einigen Jahren wird in Bayreuth jeden Sommer wieder ein surreal anmutender Security-Horror zelebriert, der – angesichts anderer, entspannt gesittet ablaufender, trotzdem gesundheitsaufmerksamer Festspiele – fassungslos staunen macht. Da dürfen Bier- und Bratwurststraßen unter freiem Himmel nur in Einbahnrichtung passiert werden, zur rechten Parkettseite kommt man lediglich ab Anpfiff über einen albernen Absperrungsparcours neben dem geschlossenen Festspielrestaurant.

Was einmal ein ebenfalls zweifelhafter Musiktempel falsch verstanden kritikloser Adoration war, ist gerade dabei, ein Fort Knox orgasmisch ausgekosteter Überprotektion zu werden. Wie lange soll das das noch andauern, wie soll das weitergehen? Was eine Rampe des (sitzharten) Genusses war, mutiert zur freundlose Festspielgasse. Wenn dafür aber nun grundlos der aufopferungsvolle Chor ausgebuht wird, dann trifft das entschieden die Falschen.

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Angesichts solcher Außenumstände (von der Hygienetabulatur der Merker hinter den Kulissen ganz zu schweigen) verwundert es vermutlich nicht, dass auch die Bühne zu einem Ort der Dystopie, der pessimistisch-realistischen Auslegung des „Fliegenden Holländers“ geworden ist. Schließlich reagieren Künstler allzu gern auf äußere Umstände. Und solche mag man nicht hinnehmen. Den noch verbesserungswürdigen jüngsten Tcherniakov-Regiecoup samt seiner trefflichen bis herausragenden Interpretenmannschaft schon.

Am 31. Juli sendet 3sat die Aufzeichnung der Premiere.

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