Bayreuther Festspiele: Es war der Abend der tonangebenden Frauen

Das Wagner-Festival eröffnet mit einer radikal realistischen Neudeutung des «Fliegenden Holländers». Zwei Künstlerinnen – die eine auf der Bühne, die andere am Pult – überstrahlen die problematische Regie.

Christian Wildhagen, Bayreuth 6 min
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Ein neuer Freund für die «Systemsprengerin»? Senta (Asmik Grigorian, rechts) ahnt die dunklen Geheimnisse in ihrer Familie und will nur noch weg aus der heimischen Enge: Szene aus Dmitri Tcherniakovs Neuinszenierung des «Fliegenden Holländers» in Bayreuth.

Ein neuer Freund für die «Systemsprengerin»? Senta (Asmik Grigorian, rechts) ahnt die dunklen Geheimnisse in ihrer Familie und will nur noch weg aus der heimischen Enge: Szene aus Dmitri Tcherniakovs Neuinszenierung des «Fliegenden Holländers» in Bayreuth.

Bayreuther Festspiele

War die Bundeskanzlerin auch wieder da? Kommt die Neuinszenierung der «Ring»-Tetralogie, die im vergangenen Jahr mitsamt allen anderen Festspielaufführungen der Pandemie zum Opfer gefallen ist, nun definitiv 2022 auf die Bühne? Wer verantwortet den neuen «Parsifal»? Welche Rolle wird der geschasste Musikdirektor Christian Thielemann künftig auf dem Grünen Hügel noch spielen? Wie geht es weiter mit der überfälligen Rundum-Renovation des Festspielhauses?

Zuverlässig zum Beginn eines jeden Sommers verwandelt sich die fränkische Kleinstadt Bayreuth in einen grossen Bienenkorb. Überall summt und brummt es, die Gerüchteküche sorgt unablässig für Nahrung, und namentlich die Vertreter der deutschen Presse zeigen bei jeder echten oder halbechten Neuigkeit einen Hang zum Hyperventilieren. Noch immer nämlich, auch noch im 145. Jahr ihres Bestehens, sind die Richard-Wagner-Festspiele alles andere als ein normales Musikfestival.

Alles erscheint hier grösser, bedeutungsvoller – das unerwartete Engagement eines Regisseurs, einer Sängerin, einer Dirigentin gar kann den Beginn einer Weltkarriere markieren; eine Absage zur Unzeit dagegen einen Karriereknick. Das war schon immer so, aber in diesem Sommer sind alle noch ein bisschen aufgeregter als sonst. Denn von den vielen eingangs skizzierten Fragen rund um die Festspiele lässt sich derzeit nur eine einzige mit Sicherheit beantworten.

Ausgebremst

Ja, Angela Merkel war unter den Besuchern der Eröffnungspremiere des «Fliegenden Holländers» am Sonntagabend. Das ist insofern eine Nachricht von Belang, als kein anderer deutscher Regierungschef – die dunkelsten «tausend» Jahre nicht ausgenommen – den Festspielen derart unverbrüchlich die Treue gehalten hat wie die festivalbegeisterte Kanzlerin. Zu einem nationalen Renommierprojekt sind die Wagner-Weihewochen während dieser nun bald zu Ende gehenden sechzehn Jahre dennoch nicht geworden. Im Gegenteil: Die halbstaatliche Trägerschaft durch ein kompliziertes Stiftungsmodell stösst derzeit bei der Generalsanierung der Festspielbauten entschieden an administrative und finanzielle Grenzen. Im schlimmsten Fall könnten feuerpolizeiliche Auflagen oder technische Zwischenfälle – wie noch jüngst bei den Schlussproben zum «Holländer» – den Betrieb lahmlegen.

Unfreiwillig ausgebremst wurde bedauerlicherweise auch der künstlerische Aufbruch, den Katharina Wagner, nach anfänglichem Schlingern, in den letzten Jahren zunehmend konsequent vorangetrieben hat, indem sie die Festspiele medial wie ästhetisch geöffnet hat. Dass man in Bayreuth seither alles Elitär-Sektiererische der überkommenen Wagner-Orthodoxie vermeidet, ist ohne Frage ein Gewinn. Der Weg zu einem modernen, sich selbst reflektierenden Festivalkonzept ist durch die Corona-Krise gleichwohl nicht kürzer geworden.

Vor allem sollte die dramaturgisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Wagner, die mit dem «Diskurs Bayreuth» so vielversprechend begonnen hat, endlich von der Peripherie ins Zentrum der Festspiele gerückt werden. Stattdessen liess Katharina Wagner bei ihrem diesmal per Zoom-Konferenz gewährten Ausblick auf die kommenden Spielzeiten durchblicken, dass die Finanzierung ebendieser Grundlagenarbeit nicht gesichert sei. Peinlich!

Immerhin will sie am Kurs der Öffnung und der durchaus mutigen Personalentscheidungen festhalten. Dafür steht etwa die Verpflichtung von Jay Scheib vom Massachusetts Institute of Technology (MIT), der die Neuinszenierung des «Parsifal» 2023 erstmals mit Mitteln der Augmented Reality gestalten soll.

Realitätsschock

Wie hart in Bayreuth Blütenträume auf bürokratische Realitäten treffen können, zeigten die Umstände der diesjährigen Aufführungen. Erst am 23. Juni hatte es überhaupt grünes Licht für die Durchführung der Festspiele vor Publikum gegeben: eine offenbar mutwillig von behördlicher Seite induzierte Verzögerung, die wieder einmal die Hochkultur als Unsicherheitsfaktor in der Pandemie dastehen liess – was sie jedoch nachweislich zu keinem Zeitpunkt war. Beim notgedrungen kurzfristig durchgeführten Online-Verkauf der nur 22 000 Karten (jeweils 911 Plätze pro Vorstellung statt regulär 1900) herrschte prompt das digitale Faustrecht des Findigeren.

Diese unschönen Vorzeichen sind indes rasch vergessen, sobald man die letzten Hürden der ausufernden Test- und Polizeikontrollen beim Einlass überwunden hat und endlich seinen registrierten Stuhl im Sitzplatz-Schachbrett einnehmen konnte. Denn kaum ist es dunkel, da bricht ein Sturm über die Besucher herein – und eine Epochenwende: Mit Oksana Lyniv steht erstmals in der Festspielgeschichte eine Frau am Pult in Wagners «mystischem Abgrund». Und die 43 Jahre alte Dirigentin aus der Ukraine, die ihr Handwerk unter anderem bei Kirill Petrenko in München gelernt hat, macht sofort mit den ersten «Holländer»-Fanfaren deutlich, dass der dramatisch-zupackende Zugriff auf Wagner beileibe keine Domäne von Männern (mehr) ist.

Lynivs kraftvolle Interpretation, in den Spannungsverläufen klar disponiert und in der Koordination zunehmend präzise, bildet die stimmige, auch akustisch sehr ausgewogene Grundlage für einen Abend, der sängerisch wie szenisch durch mancherlei Höhen und Tiefen geht. So schleppt sich der gesamte erste Aufzug arg matt und wenig fesselnd dahin, nicht zuletzt weil der Regisseur Dmitri Tcherniakov dem Stück jeglichen Geisterschiff-Grusel vorenthält.

Stattdessen siedelt er – wie stets sein eigener Bühnenbildner – das Geschehen in einem uniformen Neubaustädtchen in den Niederlanden an. Seemannsgarn wird hier bloss noch in der Dorfkneipe gesponnen. Und so fällt auch der zwielichtige Holländer, der sich unter die (längst arbeitslosen?) Matrosen mischt, zuerst kaum weiter auf: wieder bloss einer, der von seinem Schicksal erzählt und sich das Leben schöntrinkt.

Seemannsgarn wird bloss noch in der Dorfkneipe gesponnen: Daland (Georg Zeppenfeld, Dritter von links), so behauptet jedenfalls der Regisseur Dmitri Tcherniakov, hatte einst eine Affäre mit der Mutter des Holländers.

Seemannsgarn wird bloss noch in der Dorfkneipe gesponnen: Daland (Georg Zeppenfeld, Dritter von links), so behauptet jedenfalls der Regisseur Dmitri Tcherniakov, hatte einst eine Affäre mit der Mutter des Holländers.

Bayreuther Festspiele

Dieser radikal realistische Ansatz wirkt zunächst originell, trägt aber auf die Dauer nicht. Denn die Magie der schwarzen Romantik ist eben doch ein essenzieller Teil von Wagners wilder Fortschreibung des «Freischütz» und der Weber-Lortzing-Marschner-Tradition (was man bei Lyniv gerade in den Spielopern-Momenten so klar herausgearbeitet hört wie selten). John Lundgren, der interessant timbrierte, aber am Premierenabend stellenweise indisponierte Sänger der Titelrolle, hat überdies keinerlei Chance, dem Holländer schon mit dem Auftrittsmonolog «Die Frist ist um» jene abgründig-dämonische Tiefe zu geben, die normalerweise das gesamte Geschehen überschattet und beherrscht.

Dieser Holländer kommt nämlich nicht als heimatloser Weltenwanderer in das niederländische Kaff, sondern einzig und allein als Rächer. Tcherniakov bricht auch das mythische Ahasverus-Motiv auf eine banale Krimihandlung herunter, gewürzt mit allerhand Küchenpsychologie. Als Kind, so belehrt uns die wieder einmal ausinszenierte Ouvertüre, hat er mit ansehen müssen, wie seine Mutter nach einer Affäre mit Daland (dem wie immer verlässlichen, bei der Premiere aber ungewohnt farblos wirkenden Georg Zeppenfeld) von der Dorfgemeinschaft ausgegrenzt wurde und sich daraufhin erhängt hat.

Jahrzehnte später kehrt der Sohn inkognito zurück, um nun die gesamte Stadt für sein familiäres Elend büssen zu lassen. Nur Mary (Marina Prudenskaya), hier Dalands neue (oder nächste) Frau, durchschaut ihn. Sie streckt den Holländer schliesslich resolut mit der Schrotflinte nieder, nachdem seine finsteren Mannen alle die putzigen Eigenheime des Saubermann-Fleckens in Brand gesteckt haben.

«Systemsprengerin»

Erlösung kann es in einem derart naturalistischen Setting für keinen geben – obschon Oksana Lyniv hingebungsvoll Wagners nachkomponierten «Erlösungsschluss» von 1860 mit Harfengloriole dirigiert. Dass das Ganze nicht vollends ins Absurde kippt, ist vor allem der Wahrhaftigkeit und dem sängerischen Furor von Asmik Grigorian zu verdanken. Sie zeichnet Senta als unangepasste «Systemsprengerin», die um jeden Preis – und sei es in den Armen eines ihr völlig Unbekannten – fortwill: fort aus der unglücklichen Beziehung mit Erik (dem sehr höhensicheren Eric Cutler), fort aus dieser lähmenden Enge namens Heimat.

Das ist nicht neu, aber immerhin nah am Kern von Wagners erster starker Frauengestalt. Und es verbindet sich in Grigorians intensiver Darstellung organisch mit einer flamboyanten Gesangsleistung, die alle anderen in den Schatten stellt. Umso befremdlicher, dass Sentas eigentlich Erlösung verheissender Schrei «Hier steh ich, treu dir bis zum Tod» (den man in diesen Hallen lange nicht so ekstatisch gehört hat) szenisch wiederum ins Leere gellt.

Am Ende erntet die Regie beim Publikum denn auch deutliche Ablehnung. Es gibt ein paar ungerechtfertigte Buhrufe für den Chor, der durch die pandemiebedingte Zuspielung aus dem Probensaal zu wenig Klangkraft entfalten kann. Grigorian und Lyniv aber werden fast schon frenetisch gefeiert. Es war, ohne Frage, der Abend dieser beiden tonangebenden Frauen.

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