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Bayreuther Festspiele: „Der fliegende Holländer“ - Rückkehr wird zum Racheakt

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Da sind sie wieder, die Bayreuther Festspiele: Dmitri Tcherniakov erzählt, wie er sich die Geschichte des „Fliegenden Holländers“ vorstellt, Oksana Lyniv schreibt selbst Geschichte, und Asmik Grigorian ist Senta .

Bayreuth - Am Ende wird gejubelt und getrampelt, was auf den bloßen Holzböden im Bayreuther Festspielhaus Effekt macht, und 911 Menschen können schon auch einen Lärm erzeugen (wenngleich 2000 Menschen mehr Lärm erzeugen können). Sie feiern sicher die Aufführung, aber es ist auch ein klassischer Wir-sind-noch-da-Jubel.

Nach der Corona-Unterbrechung 2020 geht es weiter. Für das Publikum mit einer Schachbrettformation, so dass man dieses einzige Mal im Leben eine Bayreuther Aufführung nicht als Büchsensardine verbringt, und was ist eine FFP2-Maske gegen das Knie des Hintermanns im Rücken. Für die Mitwirkenden mit einem vollbesetzten Graben, aber ohne singenden Chor auf der Bühne – die Hälfte, liest man, die sich hier tummelt, bewegt bloß die Lippen, die andere Hälfte singt von draußen.

„Der fliegende Holländer“ in Bayreuth: Asmik Grigorian ist die Sensation des Abends

Akustisch ist das von weiter hinten praktisch nur dadurch wahrnehmbar, dass es ziemlich dünn klingt – akzeptabel, sogar hold für den Frauenchor in der Spinnrad-Szene, betrüblich nachher vor allem für die Begegnung zwischen Dorf- und Gespensterchor, denen gleichermaßen der Wind aus den Segeln genommen wird. Die ohnehin heikle Koordination zwischen Orchester und Chor scheint zudem noch schwieriger als sonst.

Im trüben Örtchen, im bescheidenen Haus, am Tisch: Der Holländer (l-r), Mary, Daland und Senta.
Im trüben Örtchen, im bescheidenen Haus, am Tisch: Der Holländer (l-r), Mary, Daland und Senta. © Enrico Nawrath/dpa

Die Sensation des Abends ist Asmik Grigorian, eine zornige junge Senta. Ihr Sopran verzichtet diesmal ganz auf lyrische Weichzeichnung und setzt dagegen auf pure Expressivität, eindrucksvoll unterstützt durch nicht nur gewaltige, sondern geradezu gewalttätige Spitzentöne. Dass sie ihre (überwiegend männliche) Umgebung an die Wand singen wird, gehört sozusagen zum Konzept, ebenso, dass es Senta nichts nutzt, wie sie weiß, zumindest ahnt. Hier kommt sie nicht weg.

Bayreuther Festspiele: Braucht der Fliegende Holländer ein Schiff?

Die Senta der Ballade ist sehr viel mehr aufgebracht als hingebungsvoll, und in ihr Aufgebrachtsein wirft sich Asmik Grigorian voll hinein. Senta ist verschlossen und zugleich herumfuchtelnd, so dass das Pathos der großen Operngeste durch die Fahrigkeit ihrer Jugend auf leicht verrückte, aber ergreifende Art Platz findet in der von Richard Wagner wesentlich abweichenden Erzählung des russischen Regisseurs Dmitri Tcherniakov.

Braucht der Fliegende Holländer ein Schiff? Nach den vergangenen Bayreuther Inszenierungen lässt sich das verneinen, wobei das Dimmen des maritimen Elements – eindrücklich gestaltet in der markanten Inszenierung-mit-der-Treppe Claus Guths (2003), weniger überzeugend in der lahmen Datenmeer-und-Ventilatorenfabrik-Lesart Jan Philipp Glogers (2012) – auch Probleme mit sich bringt. Tcherniakov übergeht sie zuweilen geschickt, dann wieder muss er forcieren, manchmal ist zugleich: etwa mit dem penetrant zusammenklappenden Tisch, der am Anfang den verschlafenen Steuermann / Kneipenstammgast begleitet wie sonst irgendwelche Probleme mit der Takelage.

Bayreuther Festspiele: Attilio Glaser und die echte Traurigkeit

Attilio Glaser singt grandios, dass sein Sehnsuchtsliedchen in der Kneipe mit Ironie behandelt wird, während es während einer Flaute auf See von echter Traurigkeit wäre: ein Tcherniakov-Behelf, wenn Text und Regie sich weit voneinander lösen. Ironie ist auf Dauer aber ein Gefühlsverkleinerer.

Tcherniakovs Erzählung geht so: In der Ouvertüre, die dadurch zur Filmmusik wird – und es gibt zumindest Ouvertüren, denen man damit mehr Unrecht täte –, illustriert er den Traum eines gewissen H. (H. wie Holländer, zum Beispiel), der als Kind vielleicht, offenbar die Affäre seiner alleinerziehenden Mutter mit einem Mann aus dem Ort mitbekommt. Zumindest träumt er jetzt davon. Der Mann verlässt sie, die Gemeinschaft verstößt sie, und am Ende der Ouvertüre nimmt sich die Mutter das Leben, hängt an einem Laternenpfahl in dem trüben, immer ein wenig nebeligen Örtchen aus braunen Ziegelsteinen, der gut an der Küste liegen könnte.

Der „Fliegende Holländer“ in Bayreuth: So schön hat sich selten eine Frau auf der Bühne verliebt

Als die Wagner-Handlung einsetzt, könnten sieben, eher 35 Jahre vergangen sein. Jedenfalls taucht beim Kneipenabend in eben jenem Kaff – einem adretten, kühlen Kaff, in dem man seine Jugend nicht verbracht haben will – ein Fremder auf, in dem wir sogleich das Kind aus der Ouvertüre, also einen Heimkehrer erahnen. John Lundgren mit kahlem Schädel und weitem Mantel – Elena Zaytsevas Kostüme zwingen das Ensemble, so zu tun, als sei es sehr kühl, natürlich ist es wie immer sauheiß – mischt sich unter die Leute, bleich und ungerührt.

Daland, Georg Zeppenfeld, erkennen wir jetzt leicht als das Verhältnis der Mutter. Er fixiert den Neuankömmling, scheint sich aber nicht zu erinnern. Mit Senta meint es der Fremde gewiss ernst, gleichwohl erschießt er am Ende einige Choristen und wird kurzum seinerseits aus etwas unklaren Motiven von Sentas Amme – hier eher: der Mutter – Mary, Marina Prudenskaya, erschossen.

Bayreuther Festspiele: Das Einmünden in Mord und Gewalt ist der glückloseste Teil der Inszenierung

Die Frage, ob dieser Mann überhaupt der Fliegende Holländer der Ballade und von Marys Foto ist, bleibt offen. Interessant, dass Senta ihn zumindest nicht gleich erkennt. Wahrscheinlicher ist, dass Mary ihre eigene Holländer-Geschichte erlebt hat. Senta ist er gleichgültig, bis er anfängt zu singen („Wie aus der Ferne längst vergang’ner Zeiten“) und sie in seiner Melancholie vielleicht ihre eigene erkennt, den Seelenverwandten zwischen Stockfischen. So schön, so wunderbar hat sich selten eine Frau auf offener Bühne verliebt.

Das Einmünden in Mord und Gewalt (Flammen lodern hinter den Fenstern): der glückloseste Teil der Tcherniakovschen Geschichte, wie der gesamte Racheplan – H. als Claire Zachanassian, als Graf von Monte Christo – besonders daran krankt, dass es keinen Text dafür gibt. Dass die Geistermannschaft des Holländers ein paar Schläger und windige Securityleute sind, die er sich mitgebracht hat: ein Versuch, zusammen zu zwingen, was nicht mehr zusammenpasst.

Die springenden und wirksamen Punkte hingegen, nicht neu, aber wieder aufregend genug: Dass Daland, der Spießer und geldgierige Tochterverkäufer, die Quelle des Dramas ist. Dass der Holländer kein Schuldiger ist – schon gar nicht vor Gott, der mit dieser Geschichte rein gar nichts zu tun hat –, sondern ein Traumatisierter. Dass Senta kein standhafter Engel, sondern eine todunglückliche junge Frau ist. Darstellerisch darf allerdings nur Asmik Grigorian das auch voll einlösen. Zeppenfeld bleibt betulich bis zum Schluss. Dass Lundgren eine Pistole zieht: unglaublich. Die Aufwertung der Figur Mary: doch zu undeutlich. Für die, die den Stream gesehen haben: Das Verhältnis aus Gelungenem und Verquerem entspricht in etwa Tcherniakovs Münchner Lockdown-Produktion des „Freischütz“.

Oksana Lyniv als erste Dirigentin bei den Bayreuther Festspielen

Oksana Lyniv, die erste Dirigentin im verdeckten Graben des Festspielhauses, bietet Spannendes. Ihr „Holländer“ ist straff und belebt, aber nicht sehr stürmisch, was der Grundidee, ohne Ozean auszukommen, sinnvoll entspricht. Das Brausen gilt den Emotionen, nicht dem Wasser, und so legen sich über die auch sinfonisch funktionierende, gut durchgearbeitete Orchestermusik die Stimmen hochexpressiv, als würde nicht nur gesungen, sondern tatsächlich auch gesprochen. Bei einer im Fall von Grigorian und Lundgren ziemlich schlechten Textverständlichkeit, aber in voller Gefühlsstärke und Unmittelbarkeit (die Ballade: taufrisch und spontan, als würde Senta sie sich gerade ausdenken).

Für Grigorian ist das ohnehin perfekt. Lundgren profitiert davon regelrecht, weil sein Holländer eher selten zu großem lyrischen Wohlklang findet. Zeppenfeld ist ein stimmlich überzeugender Daland, aus seiner durch die Vorgeschichte zentralen Rolle für die Konstellation macht die Regie aber so wenig, dass er gegen seine darstellerischen Möglichkeiten ein graues Männlein bleibt. Auch der kraftvolle Tenor von Eric Cutler kommt zur Geltung, die Figur Erik hingegen bleibt am Rand wie eh und je.

Es geht weiterhin weiter. Am Eröffnungstag kündigte Festspielleiterin Katharina Wagner für 2023 einen „Parsifal“ des US-Regisseurs Jay Scheib an, bei dem VR-Brillen zum Einsatz kommen sollen. Und Günther Groissböck – der sich noch nicht wieder ganz in Form fühlt nach der langen Pause – hat den Wotan für den „Ring“ 2022 abgesagt, bitter. Dass Wagner darauf hinweisen konnte, dass für die laufende Saison hier und da noch Karten zu haben sind, hängt mit dem Ausbleiben des überseeischen Publikums zusammen, gewiss nicht mit Inszenierungen wie Barrie Koskys „Meistersingern“ und Tobias Kratzers „Tannhäuser“, die wieder aufgenommen werden.

Festspielhaus Bayreuth: 31. Juli, 4., 7., 11., 14., 20. August. www.bayreuther-festspiele.de

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