Es ist eine Geschichte für Wagner-Neulinge, die Dmitri Tcherniakov da inszeniert hat, die beim Fliegenden Holländer nicht Bilder von sturmzerzausten Seemännern oder tosenden Meeresfluten vor ihrem geistigen Auge haben. Dann funktioniert Tcherniakovs Neudeutung überraschend gut und oft durchaus stimmig; und wenn man den Text verfolgt, wird von Wagners originalem Buch auch nichts weggelassen oder verändert – abgesehen von den meisten seiner Regie-Anweisungen natürlich. Aber schon bei der Münchner Neuinszenierung von Webers Freischütz hatte der gefragte russische Regisseur bekannt, nicht mit dem mitteleuropäisch-romantischen Sagenbild aufgewachsen zu sein. Trotzdem hatte seine Projektion von Webers Wolfsschlucht, von Freikugeln und heftig umworbener Försterstochter in ein städtisches Büromilieu erstaunlich gut funktioniert.

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Asmik Grigorian (Senta) und Eric Cutler (Erik)
© Enrico Nawrath | Bayreuther Festspiele

In der Neuproduktion von Wagners Fliegendem Holländer bei den Bayreuther Festspielen 2021 spinnt Tcherniakov, erstmals mit Inszenierung und Bühne am Grünen Hügel präsent, einen eigenen Gedanken weiter: Die Mär vom verfluchten Seefahrer, der mit Getreuen und seinem Schiff nur alle sieben Jahre anlanden darf, um eine bedingungslos liebende Frau zur Erlösung zu finden, bekommt eine ebenso dramatische Vorgeschichte, „den sonderbaren, immer wiederkehrenden Traum des H.“, wie es auf den Gazevorhang projiziert wird. Daland, umtriebiger und gewinnsüchtiger Schiffer im norwegischen Hafenstädtchen, habe vor langem eine Affäre mit der Mutter des Holländers gehabt, die der Sohn verstört beobachtet hatte. Als seine Mutter wegen der Liebelei von den Nachbarn gemieden und verächtlich gemacht wurde, hatte sie sich vor den Augen des Jungen erhängt – im Livestream der Premierenübertragung noch gezeigt, jedoch fehlte die Szene bei der besuchten Vorstellung. Rache wird zur zweiten Triebfeder der Rückkehr des Holländers und gipfelt am Ende in einem teuflischen Tableau.

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Georg Zeppenfeld (Daland) und Attilio Glaser (Steuermann)
© Enrico Nawrath | Bayreuther Festspiele

Der erste Akt beginnt in der Kneipe eines Hafenstädtchen, das auch Heimat des Holländers ist. Keine schmutzige Hafenspelunke, sondern mit blauen Fliesen, Chromregalen und noblen Gin- und Rumlabels. Umgeben von schmucklosen Klinkerhäuschen, die während des Stücks wie von Roboterhand gesteuert immer wieder verfahren und neu aufgestellt werden. Daland und seine Matrosen, die der vom Steuermann später herbeigerufene Südwind offenbar schon an Land gebracht hatte, feiern zünftig, lauschen dessen Ballade über „Gewitter und Sturm aus fernem Meer” (Attilo Glaser mit geschmeidigem Tenor und amüsantem Spiel). Nur ein Gast beobachtet das Treiben still, wie versteinert und doch abschätzend: der Holländer. Mit einer Lokalrunde zieht er die Aufmerksamkeit auf sich, öffnet sein Inneres: „Die Frist ist um”. Ein Mensch zeigt sich da, mit brennenden Gefühlen, nicht seelenlos. Und doch ein nicht sterben könnender Untoter, der die seelenverwandt opferwillige Frau noch nicht gefunden, oder sie bei falscher Liebe mit in seinen Abgrund gerissen hat. Mit viel Gold ködert er Dalands allzu schnelles Versprechen, ihm seine Tochter Senta zu vermählen.

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John Lundgrend (Holländer)
© Enrico Nawrath | Bayreuther Festspiele

John Lundgren spielte diesen dämonischen Charakter faszinierend, massiv, manipulierend, mit modisch langem Mantel und Sneakers bekleidet. Seine profunde Bassfülle hatte er an diesem Abend jedoch nicht immer im Griff, wirkte teilweise stimmlich wenig fokussiert, fast flackernd. Georg Zeppenfeld stellte Dalands gierige Selbstsucht punktgenau dar, sein Gesang war in Höhen und Tiefe mitreißend, wohltuend schlank und außergewöhnlich in seiner Textverständlichkeit.

Die sogenannte Spinnstube des zweiten Akts brachte ein Virus-bedingtes Novum. Im gesamten Werk war der Chor geteilt, in eine stumm agierende Hälfte auf der Bühne und eine bravourös singende, die von Eberhard Friedrich einstudiert und im Corona-sicheren Chorsaal geleitet und übertragen wurde. Dass diese Zuspielung mit den Lippenbewegungen der Akteure so unfassbar synchron und beeindruckend gelang, war geradezu spektakulär.

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Asmik Gigorian (Senta)
© Enrico Nawrath | Bayreuther Festspiele

Senta hat hier ihren ersten Auftritt: Asmik Grigorian, ebenso Debütantin am Hügel, zeigte eine selbstbewusste junge Frau, die unkonventionell gekleidet ist, rote und grüne Strähnchen im blonden Haar hat, raucht und wenig auf bevormundende Avancen des Vater oder vorwurfsvoll erhobene Ansprüche ihres Freunds Erik gibt. Auch von ihren betörenden Spitzentönen und der atemberaubenden Verschmelzung von Stimme und Persönlichkeit war das Publikum zu tosendem Beifall hingerissen. Beim gemeinsamen Abendessen der Familie mit dem Holländer, wo Daland und Mary (Marina Prudenskaya klangvoll dramatisch als Gattin statt Amme) ein unangenehm kleinbürgerliches Paar mimen, ist sie völlig desinteressiert an der Rolle als verkaufte Braut. Als sie in der Zwiesprache mit dem Holländer eine gleichberechtigte Beziehung versteht, willigt sie ein, stößt später Erik (glaubwürdig und fabelhaft höhenfreudig von Eric Cutler gestaltet) von sich.

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Marina Prudenskaya (Mary), Eric Cutler (Erik) und Asmik Grigorian (Senta)
© Enrico Nawrath | Bayreuther Festspiele

Der dämonisch bedrückende gemeinsame Umtrunk der Holländer- und Daland-Matrosen läuft aus dem Ruder. Der Holländer überschreitet seine Identität, erschießt einen Beteiligten; dessen Leiche bleibt auf der Bühne liegen. Als Senta sich trotzdem zu ihm bekennt, greift auch Mary zur Flinte, setzt ein Fanal. Dass zu diesen Untergängen im Orchester doch Wagners „Verklärungsschluss“ musiziert wird, bei dem sich Mary und Senta, Mutter und Tochter in die Arme nehmen, darf wohl Erlösung zumindest für diese beiden bedeuten, vielleicht sogar für nach weiteren sieben Jahren betroffene Frauen. Ob mit diesem Gewaltexzess letztlich auch Fluch und Irrfahrt des Holländers enden könnten, bleibt offen, lässt den Betrachter fragend zurück.

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John Lundgrend (Holländer), Marina Prudenskaya (Mary), Georg Zeppenfeld (Daland), Asmik Grigorian
© Enrico Nawrath | Bayreuther Festspiele

Überbordender Beifall ebenso für das Festspielorchester und Oksana Lyniv am Pult, die die akustischen Tücken von Bühne und Graben bereits bei ihrer ersten Bayreuther Opernproduktion vorbildlich meisterte. Dass sie diesem Graben überaus differenzierten Klang voller Magie entlocken kann, hat sie furios bewiesen!

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