Evgeny Titov inszenierte die Oper „Œdipe“ von George Enescu an der Komischen Oper als eine schier endlose Dystopie.

Das Blut spritzt über die graue Metallwand, als sich Jocaste im weißen Kleid das Leben nimmt. Im dritten Akt weiß sie, dass ihr Ehemann Ödipus, mit dem sie vier Kinder hat, eigentlich ihr Sohn ist. Und dass dieser auch ihren früheren Mann und seinen Vater getötet hat. Der nackte Laios sitzt mit herausquellenden Gedärmen am Beckenrand und hält liebevoll das Baby Ödipus in den Armen. Auf der anderen Seite des Beckens kauert der verzweifelte, mit der eigenen Wahrheit konfrontierte erwachsene Ödipus. Der russische Regisseur Evgeny Titov baut seine Operndystopie über die Gleichzeitigkeit der Bilder und Figuren, die sich wie in Erinnerungen überlagern oder ablösen können, auf. Demnach ist das Schicksal ein endloser blutiger Weg.

„Œdipe“ heißt George Enescus Tragédie lyrique in vier Akten und sechs Bildern von 1936. Edmond Flegs Dichtung nach Sophokles wird an der Komischen Oper, wo das Stück am Sonntag seine gefeierte Premiere erlebte, auch in französischer Sprache gesprochen und gesungen. Die Originalpartitur wurde eingekürzt auf eine Spieldauer von einer Stunde und fünfzig Minuten. Die Handlung ist zweifellos dichter an Œdipe dran, einige Nebenfiguren sind zurückgedrängt. Es führt allerdings zu einigen musikalischen Brüchen. Gespielt wird das antike Peststück in aktuellen Pandemiezeiten ohne Pause. Aber der Regisseur meidet glücklicherweise jeden Hinweis auf Corona. Er legt andere Spuren aus, die sich dem Publikum aber wohl nie vollständig erschließen. Die Inszenierung zielt insgesamt mehr auf die Gefühls- und weniger auf der Verstandesebene.

Der erwachsene Œdipe beobachtet seine Geburt

Das Einheitsbühnenbild von Rufus Didwiszus meidet prächtige Paläste in Theben und Korinth und den heiligen Hain ebenso wie ein modernes Setting. Zumindest in den beweglichen Neonröhren, die zwischendurch eine kalte Erleuchtung bringen, und in einigen Kostümen von Eva Dessecker findet sich der Hinweis auf das 20. Jahrhundert. Das Einheitsbühnenbild ist eine Art Metallkubus-Behausung mit zwei Eingängen. An der Rückwand fließt eine ölige Flüssigkeit herunter. Im riesigen Bassin in Bühnenmitte müssen sich die Bewohner unerträglich lange suhlen, es ist der Ort der Verseuchung. Man weiß nie genau, ob es sich um eine typisch russische Endzeitdystopie, also um die Geschichte einer ins Archaische zurückgekehrten Gesellschaft handelt, oder nur um das Psychogramm eines Künstlers.

Der Œdipe von Leight Melrose beobachtet im ersten Akt auf der Bühne seine eigene Geburt. Der übergroße Kopf des Babys lässt auf eine Deformation schließen. Drumherum schwarwenzelt der Hofstaat, es sind skurrile Gestalten, die sich bei Evgeny Titov durch die Handlung verrenken und wälzen müssen. Es findet vieles am Boden und im Bassin statt. Auch Jocaste scheint dauerhaft mit gespreizten Beinen zur Begattung und Geburt des Nachwuchses bereit, wenn sie nicht gerade als Königin mit überlangen Schleppen anmutig durch die graue Szene schreitet. Mezzosopranistin Karolina Gumos ist die Augenweide in dieser Dystopie, sie kann darstellerisch und sängerisch brillant die Spannungen zwischen Schmerzen und Hochgefühlen auskosten.

Das Ungeheurer von Katarina Bradic ist der Königin auf andere Weise ebenbürtig. Als Sphinx tritt die Sängerin Œdipe mit wahnwitzigen Intervallsprüngen, Vierteltönen und Glissandi in der Melodik entgegen. Die Altistin tut das mit androgyner Eloquenz. Der Regisseur sieht in der Bedrohungsfigur Œdipes alter Ego, im gestellten Rätsel wird er mit sich selbst konfrontiert. In Enescus Oper lautet die Frage: Was ist größer als das Schicksal? Die Antwort: der Mensch.

Der blinde Seher erinnert an Frankensteins Monster

Eindrucksvoll füllt Jens Larsen sprechend, röchelnd, halb singend die Rolle des blinden Sehers aus. Im Kostüm wirkt der Tiresias bedrohlich wie Frankensteins Monster. In der gut besetzten Solistenriege mit mehr oder auch gestrichenen Aufgaben kann Mirka Wagner als besorgte Tochter Antigone gefallen. Der vierte Akt gehört Œdipe, der sich selbst geblendet hat und blutverschmiert an der Rampe sein ganzes Elend bejammert. Dem Bariton Leight Melrose gelingt das auf bedrückende Weise. Es ist auf Dauer kaum auszuhalten.

„Der aussichtslose, aber beharrliche Kampf gegen das eigene Schicksal ist per se ein Sieg“, hatte Regisseur Evgeny Titov als Essenz des Stückes benannt. Aus dem Orchestergraben der Komischen Oper erklingt im Finale deutlich mehr Zuversicht. In der Premiere motivierte Generalmusikdirektor Ainārs Rubiķis sein endlich wieder groß besetztes Orchester zu eindringlichen, ja fast grob gezeichneten, atemlosen Stimmungsbildern. Das Opus Magnum des Rumänen George Enescu war selbst eine schwere Geburt, es ist eine einmalige Mischung aus spätromantischer Formenstrenge, modalen Einfärbungen, Vierteltönen und impressionistischem Klangsinn geworden. Klangmächtig präsentierten sich die Chorsolisten als Bewohner Thebens vom zweiten Rang aus.