Ein innerer Feind zerstört die Einheit der Gesellschaft: «Krieg und Frieden» in Genf

Am Grand Théâtre de Genève startet die Spielzeit mit der Tolstoi-Oper «Krieg und Frieden» von Sergei Prokofjew. Die bildgewaltige Inszenierung gibt dem Werk eine überraschende Wendung.

Marco Frei, Genf
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Als erste Schweizer Bühne zeigt die Oper Genf eine Eigenproduktion von Prokofjews «Krieg und Frieden» nach Tolstoi.

Als erste Schweizer Bühne zeigt die Oper Genf eine Eigenproduktion von Prokofjews «Krieg und Frieden» nach Tolstoi.

Carole Parodi / GTG

Seine grosse Stärke ist, dass er dem Volk als Kollektiv misstraut. Auch echte Helden gibt es bei ihm nicht, das Perfide oder gar Böse grinst stets mit über deren Schultern. Mit diesem Regie-Profil ist Calixto Bieito bekannt geworden. In jüngster Zeit wirkte es allerdings bei einigen Produktionen wie übergestülpt und zur Masche abgenutzt. Seine Inszenierung der Oper «Krieg und Frieden» von Sergei Prokofjew, mit der Bieito jetzt am Grand Théâtre in Genf debütiert, hinterlässt hingegen einen starken Eindruck.

Eine Schweizer Erstaufführung ist diese Premiere zwar nicht, denn schon 2003 wurde die Oper in Winterthur gezeigt, freilich als Gastspiel der Staatsoper Kiew; die Genfer Aufführung ist aber die erste Eigenproduktion dieses Monumentalwerks eines Schweizer Opernhauses. Ihr liegt Prokofjews finale, erst 1958 edierte Fassung zugrunde, deren Überfülle an Material zu einer praktikablen Aufführungsversion verdichtet wurde. Damit schreibt Genf eine Rezeptionsgeschichte fort, die ähnlich wechselhaft erscheint wie das Werk selber, das zwischen Gesellschaftsdrama und Geschichtschronik changiert.

Äusserer und innerer Feind

Bald nachdem Prokofjew die Partitur 1943 mitten im Weltkrieg vollendet hatte, folgten bereits erste Umarbeitungen. Mit der zweiten grossen Kulturkampagne von 1946/1948 unter dem sowjetischen Diktator Josef Stalin, in deren Zuge vor allem Prokofjew und Dmitri Schostakowitsch scharf attackiert wurden, kamen weitere Pläne zum Erliegen. Die erste Gesamtaufführung erfolgte erst 1959, sechs Jahre nach Prokofjews Tod. In jüngerer Zeit kam es 2011 in Köln sowie 2018 in Nürnberg mit Joana Mallwitz am Pult zu wichtigen Wiederbelebungen der Oper.

Dabei stellt sich stets die Frage, wie man mit dem zeithistorischen Kontext umgeht. Ohne Frage war die Hinwendung Prokofjews zum epochalen Roman von Leo Tolstoi seinerzeit auch eine Reaktion auf den Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion. Ein vierbändiger Roman, der sich vor dem heroischen Sieg Russlands über die Invasoren aus Frankreich abspielt, passte da vortrefflich. Denn tatsächlich schien sich die Geschichte auf unheimliche Weise zu wiederholen: in Gestalt zweier grössenwahnsinniger Führer, Napoleons und Hitlers, die ganz Europa zu unterwerfen suchten. Und beide scheitern am Ende, der eine in, der andere kurz vor Moskau.

Zur Wahrheit gehört indes auch, dass die deutsche Wehrmacht das sowjetische Riesenreich zu Beginn ihres Angriffs nur deshalb derart überrollen konnte, weil Stalin im sogenannten «Grossen Terror», Mitte der 1930er Jahre, fast die gesamte Führungselite des Landes verfolgt oder liquidiert hatte, auch innerhalb des Militärs. Die paranoide Terrorpolitik hatte die Sowjetunion faktisch wehrlos gemacht. So waren es nicht zuletzt einfache Zivilisten, die sich gegen den Feind stellten – freiwillig oder erzwungen. Sie waren nicht ausgebildet, Unzählige marschierten in den sicheren Tod. An diese Zusammenhänge knüpft Bieito bei seiner Genfer Inszenierung an.

Hier ist es nicht so sehr der äussere Feind, sondern vielmehr der innere, der überwunden werden will. Eine ganze Gesellschaft scheint sich feindlich gesinnt und intrigiert gegen sich selbst. Wenn es in diesem Horrorkabinett überhaupt Opfer gibt, sind es die naive Natascha und der schwärmerisch-verträumte Fürst Bolkonski: in Genf überragend gesungen und gespielt von Ruzan Mantashyan und Björn Bürger. In der verrohten Gesellschaft finden sie keinen Platz, auch nicht in ihren Familien. Selbst ein positiver Charakter wie der von Daniel Johansson packend dargestellte Pierre Besuchow mutiert unter diesen Umständen zur traumatisierten Bestie.

Bei Bieito bricht er dem Mitgefangenen Platon Karatajew, stark gestaltet von Alexander Kravets, das Genick. Im Kostümbild von Ingo Krügler irrt dieser wie ein Gottesnarr umher, was dem Mord eine geradezu bedeutungsschwangere Symbolkraft gibt. Ebenso bedrohlich wirkt bei Bieito das eröffnende Epigraf, in dem der von Alan Woodbridge meisterhaft einstudierte Chor als Stimme des russischen Volks klanggewaltig vom Einmarsch der Franzosen kündet. Sie stehen an der Rampe, mit weit aufgerissenen Augen und verzerrten Gesichtern. Dieser Masse möchte man auf der Strasse nicht begegnen. Woher diese infernalische Kraft und die innere Spaltung der Gesellschaft rühren, verdeutlicht der von Dmitri Ulynow dargestellte Marschall Kutusow.

Napoleons Gegenspieler und Besieger wird bei Bieito in der finalen Apotheose gefeiert wie Stalin nach dem Sieg über Nazideutschland. Vor seinem Schoss kniet ein Mädchen, er streicht ihr über die Haare. Auf diese Weise hat sich auch der Massenmörder Stalin oft inszeniert. Was die Gesellschaft verrohen lässt, ist die Angst. Ebendies spiegelt sich in der brillant entworfenen Bühne von Rebecca Ringst.

Die allmähliche Verrohung der Gesellschaft spiegelt sich im Genfer Bühnenbild von Rebecca Ringst zu Prokofjews «Krieg und Frieden».

Die allmähliche Verrohung der Gesellschaft spiegelt sich im Genfer Bühnenbild von Rebecca Ringst zu Prokofjews «Krieg und Frieden».

Carole Parodi / GTG

Im ersten Teil steht das Einheitsbild im Stil eines Petersburger Palastes noch in ganzer Pracht. Wenn der Krieg ausbricht, kippen die Wände, die Decke öffnet sich, und der Kronleuchter stürzt herab. Starke Bilder werden da generiert, partiell ergänzt um Einblendungen der Schweizer Videokünstlerin Sarah Derendinger.

Klänge des Bösen

Der argentinische Dirigent Alejo Pérez entlockt dem Orchestre de la Suisse Romande eine höchst differenzierte Farbenpracht. In den Tschaikowsky-nahen Walzern schimmert dabei genauso viel Unheilvolles durch wie in den schroff-herben Klangwelten, die an Mussorgsky und seine Zarenoper «Boris Godunow» erinnern.

Ob Aleš Briscien als schmieriger Kuragin, Elena Maximova als Hélène Besuchowa, Lena Belkina als Nataschas Cousine Sonia oder Natascha Petrinsky als Maria Achrossimowa: Noch in den kleinsten der unzähligen Rollen des Werks sind in Genf echte Sängerdarsteller zu erleben – grossartig! Bis 2025 sollen am Grand Théâtre zwei weitere russische Opernwerke folgen, von Schostakowitsch und von Mussorgsky, jeweils in der Regie Bieitos. Dieser starke Auftakt macht schon jetzt Lust auf die ganze Trilogie.

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