Engelbert Humperdincks Oper Königskinder wird oft als die kleinere, vernachlässigte Schwester seiner so bekannten wie beliebten Hänsel und Gretel, bezeichnet. Unrechtmäßig jedoch, weil die Geschichte dieses Kunstmärchens an die düsteren Ursprünge der heute so oft mit Happy End abschließenden Märchen – beispielsweise der Gebrüder Grimm – erinnern. Vor der Überarbeitung der sogenannten Kinder- und Hausmärchen in gefälligere, für Kinderbücher angebrachte und in die damaligen Ideale der Romantik und des Biedermeier passenden Erzählungen, lagen den Sagen und Märchen andere Vorlagen zugrunde. In diesen Märchen ereilen Aschenputtel, Rapunzel und Co. ein oft grausames Schicksal, ganz anders, als es in zahlreichen, sich immer weiter von den originalen Texten entfernenden Disney-Produktionen kolportiert wird.

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Gerard Schneider (Der Königssohn) und Heather Engebretson (Die Gänsemagd)
© Barbara Aumüller

Kein Happy End, stattdessen werden die Charaktere, die stets zwischen Märchen und Realismus wandeln, letztlich von der Realität eingeholt. Sowohl Elemente des Realismus als auch des Symbolismus kommen effektvoll zu tragen und so schwingt in den Königskindern trotz der oberflächlichen Heiterkeit, die die Musik gelegentlich anbietet, eine zutiefst traurige Melancholie mit. Die Momente des Glücks sind kurz und karg gesät. Trotz Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang, ahnt man bereits die Vergeblichkeit dieses Wunsches.

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Binta Anne (Töchterchen des Besenbinders) und Iain MacNeil (Der Spielmann)
© Barbara Aumüller

Das auf verschiedenen Märchenmotiven basierende Melodram von Elsa Bernstein-Porges erinnert an die Volksballade Es waren zwei Königsinder. Trotz unterschiedlicher Handlung lässt die Librettistin auch hier ein tragisches, moralisierendes Ende eintreten, auf die auch die letzten Verse der überlieferten Ballade nur allzu gut passen: „Da hört man Jammer und Not, Hier liegen zwei Königskinder, die sind alle beide tot!“

Doch in Bernstein-Porges Adaption trifft der Königssohn, vor seinem Vater und seiner Verantwortung fliehend, inmitten des einsamen Waldes, abgeschnitten und fern aller Menschen aufgewachsen, die Gänsemagd, die von ihrer hexerischen Großmutter manipuliert und klein gehalten wird. Verliebt wollen die beiden fliehen, doch der Bannkreis der Hexe hält sie davon ab. Glücklicherweise haben sie den Spielmann auf ihrer Seite, der, als Antagonist der Hexe, ihnen immer wieder zu Hilfe eilt. Doch auch von der Stadtbevölkerung vertrieben, irrt das Paar hungrig und kraftlos durch den Wald, ihrem bitteren Ende unweigerlich entgegen.

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Die Königskinder
© Barbara Aumüller

David Böschs Inszenierung an der Oper Frankfurt greift diese dunkle Grundstimmung auf und verstärkt sie zusätzlich durch ihre unverwechselbare Ästhetik. Mit einfachsten Mitteln werden eindrucksvolle, schauderhafte, aber auch verzaubernde Bilder geschaffen, die die Geschichte um die Königskinder auf eindringliche Weise erfahrbar machen. Die bereits neun Jahre alte Produktion hat nichts von ihrer schwermütigen Schönheit und direkten Bildsprache verloren: Sei es die graue Tristesse der schmutzigen Hellastadt (oder „Höllastadt“, wie Bösch sie tauft), oder die aus Papier geschnittenen Blumen und Gänse, mit denen sich die Gänsemagd ihre eigene eskapistische, naive Welt schafft und welche sich am Ende des ersten Akts in Feuer und Rauch auflöst.

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Jonathan Abernethy (Besenbinder), Magnús Baldvinsson (Der Holzhacker), Iain MacNeil (Der Spielmann)
© Barbara Aumüller

GMD Sebastian Weigle und das Frankfurter Opern- und Museumsorchester füllten bereits die Ouvertüre mit reichlich Melancholie und prägten den Abend mit einer atmosphärischen und gleichermaßen zurückhaltenden Interpretation. Der Fokus lag auf einen schwermütigen Schönklang, ließ durchaus heitere Phrasen zu, ging dann aber wieder ganz in der Tragik des Stücks auf. Besonders im Vorspiel zum dritten Akt betonte Weigle die Nähe der Musik Humperdincks zu Wagner.

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Katharina Magiera (Die Hexe) und Heather Engebretson (Die Gänsemagd)
© Barbara Aumüller

Die Mezzosopranistin Katharina Magiera trat als gesanglich und visuell fast zu schön geratene Hexe auf. Mit wohlig samtener und klar artikulierter Mezzostimme zählte ihre Darstellung zu den besten des Abends. Die Sopranistin Heather Engebretson erfüllte optisch zwar vortrefflich das Bild der jungen und naiven, aber zauberhaften Gänsemagd, hatte zunächst aber mit den stimmlichen Anforderungen des Sprechgesangs und seiner Diktion zu kämpfen. Dennoch bestach sie mit leidenschaftlich glühender Stimme und klangschöner Phrasierung. Weigle trug durch sein zurückhaltendes, impressionistisch-anmutendes Dirigat dazu bei, dass Engebretsons Rollenporträit glaubhaft das Publikum berührte. Denn das Leid der Gänsemagd ist geprägt durch ihre ruhigen Phrasierungen und einer traurigen Zartheit, die Engebretson vollends zu verkörpern wusste. Gerard Schneiders Darstellung des Königssohns war selbstbewusst, von manchmal überschwänglicher Art, aber stimmlich stets mitreißend und geprägt durch sein warmes Timbre voll tenoralem Schmelz. Iain MacNeil gab in der Rolle des Spielmann ein Bild des unerschütterlichen Optimismus ab. Mit ansteckend frohmütiger Rollengestaltung und kraftvoll satter Baritonstimme überzeugte er sowohl szenisch als auch stimmlich auf ganzer Länge und schuf einen Schlussgesang auf die Königskinder, der direkt ins Herz stach.

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Gerard Schneider (Der Königssohn) und Heather Engebretson (Die Gänsemagd)
© Barbara Aumüller

Es scheint nicht zuletzt dem Frankfurter Intendant Bernd Loebe geschuldet zu sein, dass diese Oper erneut auf die Bühne in Frankfurt zurückkehrt. Bei seinen Tiroler Festspielen in Erl hat Loebe die Königskinder kürzlich in einer Neuinszenierung gezeigt – interessanterweise mit verblüffend ähnlicher Besetzung – so kann man ihm sicherlich eine persönliche Affinität zu diesem unterschätzten Werk zuschreiben. Es ist ihm und dem Frankfurter Opernhaus mit seiner einzigartigen Spielplanpolitik – mit unzähligen Raritäten, Wiederentdeckungen und Uraufführungen – zu verdanken, dass das Publikum erneut in den Genuss dieser anrührenden Inszenierung kommt und die zu Unrecht aus dem Repertoire verdrängte Oper von Humperdinck und Bernstein-Porges erleben darf.

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