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„Durchgeknallte Farce ohne doppelten Boden – Schostakowitschs „Die Nase“ am Theater Basel. Foto: Thomas Aurin
„Durchgeknallte Farce ohne doppelten Boden – Schostakowitschs „Die Nase“ am Theater Basel. Foto: Thomas Aurin
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Durchgeknallte Farce ohne doppelten Boden – Schostakowitschs „Die Nase“ am Theater Basel

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Sogar am Ende hüpfen sie noch. Immer wieder geht der Vorhang auf – und das gesamte Ensemble macht unter dem Jubel des Basler Publikums den Kosaken-Macarena. Auch Dirigent Clemens Heil und Regisseur Herbert Fritsch hopsen mit. Die unglaubliche motorische Energie von Dmitri Schostakowitschs Oper „Die Nase“, den ganzen Abend befeuert vom grandios aufspielenden Sinfonieorchester Basel, wirkt nach. Michael Borth alias Platon Kusmitsch Kowaljow hat endlich seine Nase wieder und macht glückselig den Vortänzer. Die neueste Basler Produktion hat schon nach der Premiere Kultstatus.

Jeder Regisseur steht bei Schostakowitschs 1930 uraufgeführtem, aberwitzigem Opernerstling nach der gleichnamigen Novelle von Nikolai Gogol (1836) vor der Herausforderung, wie er den Verlust der Nase und die Jagd nach ihr szenisch löst. In Kirill Serebrennikovs politischer Inszenierung der Oper vor wenigen Wochen an der Bayerischen Staatsoper in München (hier die Kritik von Juan Martin Koch) tragen alle Mitglieder des hier gezeigten Polizeistaats mehrere Nasen im Gesicht – nur Kowaljow, dem die Nase vom Barbier beim Rasieren aus Versehen abgeschnitten wurde, besitzt ein normales Gesicht. Und bleibt damit ausgesperrt von der unmenschlichen Gesellschaft. Am Theater Basel wird keiner Nase etwas zuleide getan. Beim Rasieren hält Barbier Iwan (in dieser und anderen Rollen extrem komisch: Karl-Heinz Brandt) ein Nichts in die Höhe – das abgeschnittene Körperteil muss man sich vorstellen, was bei der Präsenz und Präzision der Darsteller gar kein Problem ist. In Basel gibt es keinen Frisörsalon und keine Polizeiwache, keine Redakteursstube und keine Kirche. Für die schnellen Szenenwechsel sind einzig und allein die Akteure zuständig. Eine bunte, ineinander geschachtelte Guckkastenbühne bildet den abstrakten Rahmen. Sie erinnert in ihrer Konstruktion an eine aufgeschnittene Matroschka, aber auch an ein kubistisches Kasperletheater, das seine Figuren aus den Zwischenwänden auf die Bühne wirft und nach dem Auftritt wieder einsaugt.

Mit den Halbmasken, Plastikfrisuren und den märchenhaften Kostümen von Victoria Behr schafft Regisseur Herbert Fritsch ganz bewusst eine künstliche, puppenhafte Welt, in der die Mimik überzeichnet und die Gestik übertrieben wird. Jeder Schritt ist choreographiert und perfekt auf die Musik abgestimmt. Fratzenhaft, beklemmend, beängstigend wird diese Welt nicht. Gogols bitterböser Satire auf das Zarenreich, die Schostakowitsch auf die Apparatschiks der Sowjetunion in der Zwischenkriegszeit ummünzte, fehlt in Basel die Tragik. Das Lachen bleibt nicht im Hals stecken. Aber das Stück funktioniert auch als durchgeknallte Farce ohne doppelten Boden, vor allem wegen der großen Musikalität der Inszenierung.

So ein Abend würde sich schnell im Leerlauf drehen, wenn nicht die Solisten und der Chor extreme Spielfreude entwickeln würden. Mit der Nase wurde dem armen Kowaljow, den Michael Borth, Ensemblemitglied am Freiburger Theater, mit seinem beweglichen, sonoren Bariton und seinen traurig verknoteten Beinen zu einer echten Sympathiefigur macht, nämlich auch seine Potenz genommen. Die entlaufene, als uniformierte Dragqueen verkleidete Nase (schön verrückt: Hubert Wild) wird zum Objekt der Begierde. Als Kowaljow am Ende der turbulenten Nasenverfolgung vom vitalen Wachtmeister (großartig: Peter Tantsits) seinen entlaufenen Kolben wiederbekommt, kehren seine Lebensgeister zurück und er tanzt bis zum Ende der Oper durch. Im brillanten Ensemble sorgen Jasmin Etezadzadeh (Praskowja Ossipowna/Brezel-Verkäuferin/Pelageja Podtotschina) und Inna Fedorii (Sopransolo/Mutter/Tochter) für weitere gesangliche Höhepunkte. Der Chor (Leitung: Michael Clark) belebt in vielen Einzelrollen die Szenerie und macht die Massenszenen zu virtuosen Hysterieanfällen. In diesem Tohuwabohu behält Dirigent Clemens Heil kühlen Kopf. Besonders im dritten Akt wird alles von der perfekt geölten Maschinerie aus dem Orchestergraben mitgerissen. Ein Rädchen greift ins andere. Aber auch für die wenigen lyrischen Passagen hat Heil ein Händchen wie in der Szene in der Kathedrale oder bei Kowaljows Depressionsanflug im sechsten Bild des ersten Aktes. Der überhitzte Galopp, der nach dem 3. Bild die Jagd auf die Nase eröffnet, wird ebenfalls eindrucksvoll in Szene gesetzt. Das Orchester spielt den ganzen Abend so präzise wie ein Uhrwerk. Die Protagonisten werden zu Spielfiguren: atemlos und ständig in Bewegung.  

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