"Katja Kabanova" an der Komischen Oper in Berlin:Mit weitem Schwingen

Lesezeit: 2 min

Giedrė Šlekytė hat bereits mit wichtigen Orchestern und an bedeutenden Opernhäusern in ganz Europa gearbeitet. (Foto: Nikola Milatovic)

Die junge Litauerin Giedrė Šlekytė dirigiert Leoš Janáčeks "Katja Kabanova" in Berlin.

Von Wolfgang Schreiber

Einen neuen alarmierenden Fall von weiblicher Hochbegabung mit Taktstock meldet Berlins Komische Oper. Die Alleinherrschaft der Pultherren geht rascher zu Ende als gedacht: Dirigentinnen sind längst dabei, die Männerbastion an den Orchesterpulten per Geist und Feuer zu schleifen: von Simone Young, Emmanuelle Haïm und Mirga Gražinytė-Tyla bis zu Marie Jacquot, Oksana Lyniv und Joana Mallwitz.

"Die Neue" aus Litauen heißt Giedrė Šlekytė, sie wurde 1989 in Vilnius geboren. Verließ ihr Land zu Studien in Graz, Leipzig und Zürich, war Kapellmeisterin in Klagenfurt, dirigierte an Opernhäusern in Frankfurt, Bologna und Antwerpen, assistierte Vladimir Jurowski an der Bayerischen Staatsoper, steht dort auch schon am Pult und dirigiert demnächst die Münchner Philharmoniker. Zum ersten Mal jetzt eine Berliner Opernpremiere. "Frische, Elan und Leidenschaft" hat ihr ein Kritiker kürzlich bescheinigt, "enormes Dirigiertalent".

Das will Giedrė Šlekytė mit Leoš Janáčeks "Katja Kabanova" musikdramatisch ausleben. Wenn das Vorspiel der Oper beginnt, die Tragödie einer familiären Depression im patriarchalischen Russland, nach dem Schauspiel "Das Gewitter" von Alexander Ostrowski, wird die überlegene Meisterschaft der jungen Dirigentin hör- und sichtbar: Sie kann ihre das Orchester belebenden Ausdrucksgesten hoch und weit ausschwingen lassen, sie ist in der Lage, die düstere Schicksalsgewalt der Oper von 1920/21 mit souverän entfaltetem Klangfarbenreichtum zu beleben. Um sich daraufhin, mit dem ihr stets aufmerksam folgenden Orchester des Hauses, vehement und präzise in die schwierig herbe Kunst der "Sprachmelodik" des Komponisten zu stürzen.

Janáček fand zu einer völlig anderen Musiksprache als Wagner und Verdi

Leoš Janáček (1854 - 1928) fand zu einer völlig anders strukturierten Musiksprache als die Regenten Wagner und Verdi oder seine Landsleute Smetana und Dvořák - den fast gleichaltrigen Richard Strauss nicht zu vergessen. Der komponierte gleich nach dem Ersten Weltkrieg elegant seine elegisch-komödiantische "Ariadne auf Naxos". Janáček hingegen das Unglück und den Suizid einer unerfüllten jungen Frau vom Lande. Die Besonderheit Janáčeks: Er hat Sprache, Sprachmelodie, das Sprechen der Menschen, auf Tschechisch wohlgemerkt, minutiös beobachtet, auf Papier gekritzelt, analysiert und in Musik übertragen. Und das so begründet: "Töne, der Tonfall der menschlichen Sprache, jedes Lebewesens überhaupt, hatten für mich die tiefste Wahrheit." Ein Realist "sprechender" Klangcharaktere: Janáček war überzeugt, "dass alle melodischen und harmonischen Rätsel in der Musik überhaupt rhythmisch und melodisch, nur aus dem Tonfall der Sprache gelöst werden können".

Einer der raren fröhlichen Momente in Janáčeks schroffer Oper "Katja Kabanova". (Foto: Jaro Suffner/Komische Oper Berlin)

Giedrė Šlekytė hat sich fest mit der Regisseurin und den Sängerdarstellern verbunden. Das Orchester diene, sagt sie im Hausinterview, "nicht einfach als Begleitung", vielmehr stünden "alle musikalischen Ereignisse und Strukturen in engem Zusammenhang mit der dramatischen Handlung". Und die hat die Holländerin Jetske Mijnssen in das psychologisch fein austarierte Kammerspiel einer desaströs konventionellen Dorffamilie an der Wolga eingebettet. Dort führt die Lebensgier der im Ehezwang eingesperrten, von der herrschsüchtigen Kabanicha, der Schwiegermutter (Doris Lamprecht), gequälten Katja zum jähen Ehebruch, zu frommer Zerknirschung und Suizid.

Der Sopranistin Annette Dasch, die sich als Sängerin rar gemacht hat, gelingt es, die mächtige Sehnsucht dieser Frau nach Liebe, ihre Distanz zu Ehemann Tichon (Stephan Rügamer) und jubelnde Vereinigung mit dem feurig jungen Boris (Magnus Vigilius) glaubhaft zu machen, dank ihrer emotionalen Wahrhaftigkeit, inneren Kraft, ihrer ausgereiften Stimmcharakterstärke. Die lustig frische Varvara (Karolina Gumos) kann ihrer Seelenpein nicht aufhelfen.

Klaustrophobische Einfachheit und Enge, mit drei seitlich verschiebbaren Stuben, jeweils nur Tisch, Stuhl, Riesentüren nach draußen, bestimmen die Bühne von Julia Katharina Berndt. Nichts gemütlich Ausgeschmücktes brauchen Konflikte dumpf verletzter Menschen. Und dass Katja nicht, wie die Oper erzählt, in der Wolga ihr Leben beendet, sondern mit Gift, will Jetske Mijnssen im finalen Bild genialisch überhöhen: Katja und Boris kauern totenstarr auf der Erde, eine Art Pietà, während Dorfbewohner sie aufgeregt bestaunen. Leoš Janáčeks schroffe Musik, von Giedrė Šlekytė soghaft modelliert, beherbergt Menschenliebe und Verstörung.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Kent Nagano zum 70. Geburtstag
:Lektionen in Demut

Von Kalifornien über Berlin, München und Montreal nach Hamburg: Der Dirigent Kent Nagano wird siebzig - und denkt darüber nach, wie sich die eigene Offenheit erhalten lässt.

Von Wolfgang Schreiber

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: