ELEKTRA als Psycho-Thriller an der Staatsoper Hamburg

Staatsoper Hamburg/ELEKTRA, Aušrinė Stundytė/Foto @ Monika Rittershaus

August Everdings Inszenierung der „Elektra“ von Richard Strauss blieb fast ein halbes Jahrhundert im Repertoire der Staatsoper Hamburg und wurde dennoch überraschend selten wiederaufgenommen, der letzte Vorhang fiel schließlich dann vor knapp fünf Jahren. Nun deutet Dmitri Tcherniakov an der Staatsoper Hamburg den Stoff Hugo von Hofmannsthals in seiner Neuinszenierung gänzlich andersartig, als man es von den meisten Lesarten des Werks gewohnt ist. Anstelle einer trüben, brachialen Szenerie auf großer Bühne, grenzt Tcherniakov das Bühnenbild stark ein und verlegt die Handlung in eine stattliche Wohnung der Zeit um die Jahrhundertwende. Dies war die Zeit von Strauss und Hofmannsthal, aber auch eben die Zeit der Psychoanalyse Siegmund Freuds. Tcherniakov entnimmt der Handlung all die Herrschafts- und Machtgedanken der alten Griechen und erfasst den Kern des Werks, indem er die „Elektra“ als das darstellt, was sie eigentlich auch ist: Ein Familiendrama – schrecklich und tödlich, ja! Aber ein menschliches Drama mit Figuren unterschiedlichster Eigenschaften in ihrem komplexen Geflecht im Mit- und Gegeneinander innerhalb einer sich abgrenzenden Gemeinschaft, fernab der kriegerischen Auseinandersetzung antiker Völker oder Gesellschaftsschichten. (Rezension der besuchten Vorstellung am 11.12.2021)

 

 

Wo andere Regisseur*innen mit Stereotypen bei der Gestaltung der drei weiblichen Hauptfiguren arbeiten – einer im Wahnsinn gefangenen und von niemand verstandenen Titelfigur, einer Klytämnestra als ihr Gegenpart im Typus der herrisch-wilden Witwe, und zuletzt die kleine Schwester Chrysothemis, meist eindimensional als Heimchen am Herd im weißen Brautkleid skizziert – sieht Dmitri Tcherniakov die Psychen und Motive der Figuren weitaus differenzierter. Der Regisseur lässt die drei Hauptrollen in seiner Inszenierung eine Wandlung ihrer Gefühle im (Un-)Verständnis zueinander durchleben. Mit einer ausgefeilten Personenregie wie man sie nur selten auf der Opernbühne erlebt – jeder Szene und Phrase mit ihnen zugehöriger Mimik und Gestik– blickt der Regisseur in die tiefen Abgründe der Seele und erweckt so die Dichtung Hofmannsthals auf zum Leben. Mit einem Plottwist in der Schlussszene, in welcher Orest als Serienkiller und eben nicht als verlorener Bruder der Elektra enttarnt wird, hat Tcherniakov das Finale jedoch arg simpel interpretiert und seine eingangs auf hohem Niveau analysierende psychoanalytische Charakterstudie lediglich inkonsequent zu Ende geführt.

Staatsoper Hamburg/ELEKTRA, Aušrinė Stundytė/Foto @ Monika Rittershaus

Diese ausgefeilte Personenregie wird jede Wiederaufnahme mit geänderter Solist*innenbesetzung zur besonderen Herausforderung werden lassen. Mit Aušrinė Stundytė, zuletzt bei den Salzburger Festspielen als Elektra umjubelt, konnte eine der weltweit aufregendsten Sängerinnen für die Premierenserie gewonnen werden. Sie scheint nun endgültig in die Fußstapfen von Evelyn Herlitzius als Nachfolgerin DER Elektra unserer Tage getreten zu sein. Stundytės Stimme ist groß, markerschütternd und besonders in der Mittellage ausgeprägt. Sie entspricht so gar nicht dem klassischen Typus einer hochdramatischen Sopranistin, was jedoch wahrlich nicht negativ zu verstehen ist! Mit gekonnten stimmlichen Kniffen umgeht Stundytė mache Spitzentöne und nutzt stattdessen ihr deklamatorisches Geschick, was ihre intensive Rolleninterpretation verstärkt. Ihr gebührt Hochachtung, dass sie im Gegensatz zu ihrem Rollendebüt im letzten Jahr zahlreiche Striche der Partitur öffnete und so eine Elektra in fast ungekürzter Länge sang! Bei Stundytė ist es das Gesamtbild einer Sängerdarstellerin, gar einem Bühnentier, mit der sie sich in ihre Partie wirft und diese mit ungeheurer Bühnenpräsenz zum Leben erweckt.

Staatsoper Hamburg/ELEKTRA, Aušrinė Stundytė, Violeta Urmana/Foto @ Monika Rittershaus

Besonders intensiv geriet die Konfrontationsszene zwischen Elektra und ihrer Mutter Klytämnestra, in welcher Violeta Urmana bewies, dass sie nach ihrer stattlichen Soprankarriere nun auch in Charakterpartien überzeugen kann. Sie begann die Szene als alte, tatterige, an Demenz oder Parkinson leidende Frau, die nicht mehr über die Kontrolle ihrer Worte und Sinne verfügt und selbst mit den einfachsten Tätigkeiten am Frühstückstisch überfordert ist. Die anderen Opernfiguren haben ihre Darstellung abgekauft, erst in dem Moment als Elektra von ihrem verloren geglaubten Bruder berichtet, kehren der Mutter die Erinnerungen zurück und plötzlich wirkt sie gar nicht mehr so schusselig, sondern berechnend! Hat Klytämnestra ihre Schuld doch all die Jahre begriffen, sich aber in der Rolle des hilfe- und pflegebedürftigen Mütterchens, dem sowieso niemand böse sein kann, nur allzu sicher gefühlt?

Staatsoper Hamburg/ELEKTRA, Aušrinė Stundytė, Lauri Vasar/Foto @ Monika Rittershaus

Der Regisseur bleibt ambivalent, möglich ist beides, zumindest Chrysothemis scheint ihrer Mutter durchaus Glauben geschenkt zu haben, gleichwohl steht diese auch liebevoll auf der Seite Elektras. Mit glühend leuchtender Sopranstimme stellte Jennifer Holloway in dieser Partie einen glaubhaften Konterpart zu ihrer exzentrischen Schwester dar und suchte einen Kompromiss im tödlichen Familiendrama. Diesen hat sie nicht gefunden. Ihre Unentschlossenheit und der Glaube an das Gute im Menschen wurde Chrysothemis zum Verhängnis! Lauri Vasar schuf mit seiner klaren Baritonstimme in eindringlicher Deklamation ein doppeldeutiges und gespaltenes Rollenporträt des Orest, bei dem man nie genau wusste, ob er nun zu den Guten oder Bösen gehörte.

Gar nicht sonderlich psychologisch, sondern direkt und konfrontativ deutete Kent Nagano am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg die komplexe Partitur Richard Strauss. Mit seinem straffen, effektvollen Dirigat peitschte er die Familienkatastrophe erbarmungslos voran, ließ jedoch gerade in den Forte-Ausbrüchen die notwendige Sensibilität vermissen. Auch Fortissimo möchte gekonnt sein. Besonders die expressiven Klangfarben kamen unter Naganos Leitung zu kurz, so wirkten beispielsweise die Holzbläser und das Schlagwerk etwas zu schroff und vordergründig statt sorgsam abgestimmt, eingegliedert in einen Gesamtklang. Nichtsdestotrotz ein orchestral durchaus gelungener Abend mit einem Staatsorchester in Topform!

Aufgrund der exzellenten Personenregie lohnt es sich, die rezensierte Aufführung einmal selbst bei medici.tv nahzuschauen: https://www.medici.tv/en/operas/strausss-elektra-staatsoper-hamburg-2021/

 

  • Rezension von Phillip Richter / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Staatsoper Hamburg / Stückeseite
  • Titelfoto: Staatsoper Hamburg/ELEKTRA, Aušrinė Stundytė, Violeta Urmana/Foto @ Monika Rittershaus
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