Richard Strauss, wie man ihn noch nie gesehen hat. Wie kommt das? – Aviel Cahn sagt: «Nicht-Opernregisseure bringen frischen Wind in das Getriebe»

Der Genfer Opernchef hat Zürich einen Korb gegeben, obwohl er als Favorit für die neue Intendanz galt. Das Grand Théâtre eröffne ihm andere Spielräume, sagt er. Das zeigt jetzt auch die spektakuläre Neuinszenierung der «Elektra».

Thomas Schacher, Genf
Drucken
Die Maschinerie des unabänderlichen Schicksals senkt sich herab: Szene aus Ulrich Rasches Neuinszenierung der «Elektra» von Richard Strauss an der Oper Genf.

Die Maschinerie des unabänderlichen Schicksals senkt sich herab: Szene aus Ulrich Rasches Neuinszenierung der «Elektra» von Richard Strauss an der Oper Genf.

Carole Parodi / GTG

Die Genfer Opernfreunde können aufatmen: Aviel Cahn, der Direktor des Grand Théâtre, bleibt ihnen erhalten. Der gebürtige Zürcher hat sich nämlich nicht für die Nachfolge Andreas Homokis am Opernhaus Zürich beworben, obwohl er als einer der «Papabili» gehandelt worden war. Die Zürcher Intendanz habe ihn zwar interessiert, meint Cahn im Gespräch, aber es sei einfach nicht der richtige Zeitpunkt gewesen.

Wegen der Corona-Pandemie habe er in Genf, wo er seit der Spielzeit 2019/20 im Amt ist, bisher einige Projekte nicht wie geplant realisieren können, erklärt er. Künstlerisch befinde man sich derzeit in einer spannenden Aufbauphase, zudem geniesse er das Vertrauen der Sponsoren und der politischen Instanzen. Angesprochen auf die Unterschiede zwischen Genf und Zürich, preist er die Vorteile des Stagione-Systems in Genf, wo ausschliesslich Neuinszenierungen gezeigt werden. Die gegenwärtige «Elektra»-Produktion beispielsweise wäre mit ihren vielen Bühnenproben im vollständigen Dekor an einem Repertoire-Haus wie Zürich nur schwer machbar gewesen. Das klingt, als habe Cahn in Genf tatsächlich das ideale Haus für seine Vorstellung von einem zeitgemässen Opernbetrieb gefunden.

Andere Publikumsschichten

Seitdem Aviel Cahn in Genf das Zepter führt, ist dort die Programmierung abwechslungsreicher geworden. In der laufenden Saison gibt es neben einem Zugstück wie Puccinis «Turandot» oder Monteverdis «Poppea» auch Erstaufführungen wie Lullys «Atys» oder Prokofjews «Krieg und Frieden». Demnächst ist als Koproduktion mit der Berliner Lindenoper die Schweizer Erstaufführung von «Sleepless», dem neuen Bühnenwerk von Péter Eötvös, zu sehen. Cahns Leitlinie für das Programm ist eine Mischung der unterschiedlichsten Epochen, Stilrichtungen und Nationalitäten.

Bei den Regisseuren fällt auf, dass Cahn gern Künstler engagiert, die nicht vom Musiktheater herkommen. So hat er für das Opernballett «Atys» den bekannten Choreografen Angelin Preljocaj und für «Sleepless» den Film- und Theaterregisseur Kornél Mundruczó verpflichtet. «Die Nicht-Opernregisseure bringen frischen Wind in das Getriebe», so begründet Cahn seine Vorliebe und meint sowohl die Darstellung von bekannten Stoffen wie den Umgang mit Sängern. «Und sie vermögen auch andere Publikumsschichten anzusprechen.»

Auch Ulrich Rasche, der Regisseur und Bühnenbildner der neuen Genfer «Elektra», kommt vom Schauspiel her. Und er macht aus Richard Strauss’ Oper etwas, das man so noch nie gesehen hat. Normalerweise herrscht bei Inszenierungen ein archaisches Bühnenbild vor, das an den Palast im altgriechischen Mykene anknüpft. Rasche dagegen stellt eine spektakuläre Metallkonstruktion auf die Bühne. Sie besteht aus zwei kreisförmigen schiefen Spielebenen, einer oberen und einer unteren, die sich die ganze Zeit langsam drehen. Darüber hängt drohend ein Zylinder, der je nach Beleuchtung als Turm, als Zirkusgestänge oder als Gefängnis zu deuten ist.

In diese Maschinerie eingespannt, spielt sich die Handlung von der Ermordung Klytämnestras und ihres Buhlen Ägisth ab, geplant von Elektra und schliesslich ausgeführt von Orest. Aus der (nur als Bericht vermittelten) Vorgeschichte erfährt man, dass sich die beiden Geschwister damit für den Mord rächen, den die Mutter Klytämnestra an ihrem Gatten Agamemnon begangen hat. Der Fluch, der seit langem auf dem Königshaus der Atriden lastet, fordert zwei weitere Todesopfer.

Gefangene am Seil

Die Deutung, die Rasche mit seiner Metallkonstruktion liefert, ist offenkundig: So wie die Spielebenen sich ständig drehen, so nimmt das Schicksal unabwendbar seinen Lauf. Die Protagonisten sind nicht frei handelnde Wesen, sondern Ausführende eines mechanisch ablaufenden Geschehens. Sie sind buchstäblich Gefangene, denn jede und jeder ist an einem Seil angebunden, das ein Verlassen der zugewiesenen Spielebene verhindert. Bei der Wiedererkennungsszene zwischen Elektra und Orest gibt es denn auch keine Umarmung, denn sie steht oben, er unten.

Diese mechanistische Sicht hat zur Folge, dass die Figuren nicht, wie üblich, psychologisierend ausgedeutet, sondern in ihrer Expressivität zurückgenommen werden. Vor diesem Hintergrund ist vor allem die Leistung der Protagonistin zu beurteilen. Es gab und gibt berühmte Interpretinnen der Elektra, die in ihrem Ausdruck bis zum Äussersten gehen. Die Schwedin Ingela Brimberg tut dies nicht – sie darf es nicht tun und gibt weder die Furie noch eine Verrückte. Dass ihre Sopranstimme nicht immer das von Strauss vorgesehene hochdramatische Potenzial hat, passt ebenfalls in diesen Rahmen. Restlose Bewunderung verdient auf jeden Fall Brimbergs physische Leistung, ist sie doch während der gesamten Aufführungsdauer auf der Bühne präsent und ständig in Bewegung.

Widerspruch zur Musik

Auch die Klytämnestra von Tanja Ariane Baumgartner, die für die Rolle einen dunkel gefärbten Mezzosopran und reiche Erfahrungen von den Salzburger Festspielen ins Feld führt, tritt emotional etwas auf die Bremse. So bringt denn ausgerechnet die grosse Streit-Szene zwischen ihr und Elektra keinen wirklichen Höhepunkt. Eine erfrischende Note steuert Sara Jakubiak als Chrysothemis bei. Stimmlich sehr ähnlich wie Elektra, verkörpert sie mit ihrer Sehnsucht nach Glück einen Gegenentwurf zur rachebesessenen Schwester. Der Orest von Károly Szemerédy wirkt äusserst getrieben, und dem Ägisth von Michael Laurenz steht die Angst ins Gesicht geschrieben.

«Elektra» verlangt die grösste Orchesterbesetzung aller Strauss-Opern. Der Dirigent Jonathan Nott hat einige Abstriche vorgenommen, so dass das Orchestre de la Suisse Romande im Graben gerade knapp Platz findet. Trotz der Riesenbesetzung – und das ist die Kunst bei diesem Stück – werden die Sänger klanglich nicht überrollt. Dabei hilft fraglos auch, dass sie nie unten auf dem Bühnenboden, sondern stets in erhöhter Position auf ihren Laufrädern singen.

Stilistisch huldigt Strauss in «Elektra» einer ausgesprochen psychologisierenden Deutung des Bühnengeschehens, was Nott in allen Facetten beeindruckend nachzeichnet. Damit ziehen Dirigent und Regisseur offenkundig nicht am selben Strick. Doch gerade dieser Widerspruch erschliesst das Stück für das Publikum auf frappierende Weise neu.

Mehr von Thomas Schacher (tsr)