Bei Vasily Barkhatovs Inszenierung heißt es zuerst einmal: Film ab!

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Frauen haben es nicht leicht: im Leben nicht – und noch viel weniger in der Oper. Dort fallen sie oft dem Wahnsinn anheim und sterben danach (Lucia di Lammermoor, Lady Macbeth). Manchmal bringen sie sich auch selbst um (Tosca, Madame Butterfly), oder sie werden umgebracht (Carmen, Stephana).

Bei den Bregenzer Festspielen finden in diesem Sommer Todesart zwei und drei mitfühlenden Beifall. Der Lebensweg der zu Grazie und Unterordnung erzogenen Cio-Cio-San endet in Puccinis Madama Butterfly nach einer vermeintlichen Flucht in einer Sackgasse, in der sie nur noch den Suizid als Ausweg sieht. Da agiert die Stephana in Umberto Giordanos Oper Siberia etwas selbstbestimmter.

Ins Straflager folgen

Sie trennt sich von Fürst Alexis, dem Finanzier ihres Luxuslebens in St. Petersburg, um ihrem Geliebten Vassili ins Straflager zu folgen. Dort gelingt es Stephana, mit ihm unter widrigsten Umständen ein einigermaßen glückliches Leben zu führen. Beim gemeinsamen Fluchtversuch wird sie jedoch erschossen.

Die Parallelen zwischen den tragischen Opernheldinnen sind erstaunlich. Beide werden im Teenageralter durch eine zuhälterartige Figur gutsituierten Männern zugeführt – Cio-Cio-San durch den Heiratsvermittler Goro, Stephana durch ihren ersten Liebhaber Gleby. Beide werden im Libretto als Schmetterlinge bezeichnet, die sich entweder die Flügel verbrennen oder Gefahr laufen, aufgespießt zu werden.

Opernzwillinge

Aber auch darüber hinaus sind beide Opern eng verbunden: Man kann es fast als eine Zwillingsgeburt bezeichnen, die sich in der Saison 1903/04 an der Mailänder Scala ereignete. Die Geburtshelfer der Uraufführungen von Siberia und Madama Butterfly – der Dirigent, das Regieteam und die Sängerinnen und Sänger der drei wichtigsten Partien – waren dieselben. Ein kluger und schöner Akt von Elisabeth Sobotka, beide Opern unter dem Dach der Bregenzer Festspiele erneut vergleichend zusammenzuführen.

Bei Barkhatovs Inszenierung von Sibirien (man wählte in Bregenz den deutschen Titel) im Festspielhaus heißt es zuerst einmal: Film ab! Der russische Regisseur hat für seine Deutung der Oper eine Rahmenhandlung ersonnen, in der eine ältere Italienerin nach einem Todesfall nach Russland reist, um sich dort auf Spurensuche in ihrer familiären Vergangenheit zu begeben.

Familiär-archäologische Grabungen

Barkhatov – er wird im April 23 für das Musiktheater an der Wien Weinbergs Oper Der Idiot inszenieren – gelingt es dabei, Filmeinspieler und Szene gekonnt zu verbinden und mit der Figur der Alten Frau (altersadäquat abgesungen: Clarry Bartha) ein szenisches Empathiezentrum zu kreieren. Christian Schmidt bildet mit seiner wandelbaren Bühne das Ineinander der familiär-archäologischen Grabungen und des Operngeschehens ideal ab.

Im Zentrum all dessen agiert Ambur Braid, die als Stephana nicht nur stimmlich voll im Saft steht. Auch physisch ist der Kanadierin die Durchsetzungsfähigkeit eines Rugbyteams zu eigen – das bekommt der fiese Gleby schlussendlich am eigenen Leib zu spüren. Lustvoll lässt Braid ihren Sopran in hochdramatische Gefilde ausbrechen; da fackeln Leidenschaften so wild wie Leuchtfeuer, die aber nicht immer ideal fokussiert bleiben.

Feines Dirigat

Zwei Nummern kleiner gibt es Alexander Mikhailov, der die spätromantischen Kantilenen des Vassili proper präsentiert, dabei aber eng und gedeckt bleibt. Braid und Mikhailov, das ist wie eine gemeinsame Ausfahrt mit einem Monster Truck und einem braven, blank polierten Mittelklassewagen – ein ungleiches Paar.

Solide, aber etwas gleichförmig: Scott Hendricks als Gleby, edel-strahlend Omer Kobiljaks Fürst Alexis. Toll Fredrika Brillembourg als Dienerin Nikona, eindrücklich auch Stanislav Vorobyov als Aufseher. In jeder Hinsicht beeindruckt das hochenergetische, superpräzise und feinfühlige Dirigat von Valentin Uryupin, der mithilfe der einsatzfreudigen Wiener Symphoniker die prunkenden, verführerischen Verismo-Klangwelten von Giordanos "wundervollem italienischen Opernschinken" (Intendantin Elisabeth Sobotka über das Werk) zu klingendem Leben erweckt. Beseelt und wandelbar auch der Prager Philharmonische Chor. (Stefan Ender, 22.7.2022)