Nonos „Intolleranza 1960“ ist an der Komischen Oper musikalisch heißblütig, szenisch aber unterkühlt.

Der Zuschauerraum in der Komischen Oper ist für Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ komplett um- und überbaut. Ein Teil des Publikums sitzt jetzt auf der Bühne, andere im ersten Rang. Wer einen Platz links im Parkett Block C Reihe 4 ergattert hat, der ist privilegiert und verpflichtet, selbst Teil des Bühnengeschehens zu werden. Man bekommt wie beim Friseur einen weißen Gazeumhang und passt sich in die Eiswüste von Bühnenbildner Márton Ágh ein. Regelmäßig erscheinen neben einem Choristen, die sich abducken, hochklettern oder auf eine Scholle springen. Es ist einiges in Bewegung.

Man muss es betonen: Die Chorsolisten der Komischen Oper sind das Pfund, mit dem diese Aufführung wuchern kann. Nonos Musik lebt von harten Kontrasten. Der hervorragend einstudierte, ebenso klangmächtige wie vielseitige Chor tritt gleichermaßen als Erzähler, Ankläger und Spielmacher in Erscheinung. Er bekommt hier mehr Gewicht als in anderen Inszenierungen. Der Zusammenhalt der im Saal verteilten Sänger wird in der Komischen Oper durch neun Monitore hergestellt, denn Dirigent Gabriel Feltz steht hoch oben auf einem Podest vor der Brüstung in knapp acht Metern Höhe. Es ist mühsam, zu ihm hochzublicken.

Im zweiten Rang ist das große Orchester platziert

Das große Orchester ist im zweiten Rang platziert. Unter Feltz’ stringenter Führung können die Musiker die aggressiven Blechbläser- und Schlagzeugattacken, aber auch die transparenten lyrischen Passagen auf zupackende Weise in den Saal spielen. Nono, der 1990 in Venedig verstorbene Komponist, war ein Anhänger der im Markusdom in der Renaissance entwickelten Mehrchörigkeit. Musik erklingt seither nicht nur von vorn, sondern raumgreifend von allen Seiten. In der Komischen Oper wird das venezianische Prinzip auf den Großen Saal übertragen. Musikalisch war die Premiere am Freitag faszinierend. Orchester, Chor und Solisten sahen sich am Ende bejubelt.

Marco Štorman lässt Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ in einer Eiswüste von Bühnenbildner Márton Ágh spielen.
Marco Štorman lässt Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ in einer Eiswüste von Bühnenbildner Márton Ágh spielen. © Barbara Braun

Dennoch muss man als Besucher links im Parkett Block C Reihe 4 nach einiger Zeit innerlich protestieren. Wer will schon dauerhaft Teil einer blöden Eiswüste sein? Zumal das Bild der kalten Gesellschaft, in der wir alle leben, abgegriffen ist. Bereits nach einer halben Stunde von insgesamt 80 Minuten Aufführungsdauer schleicht sich das Gefühl ein, dass Regisseur Marco Štorman die gesellschaftlichen Konflikte, die Nono wichtig waren, lieber unter der Eisdecke verschwinden lassen will.

Das politische Stück ist eine klare Ansage zu Beginn der neuen Intendanz

Dabei ist es eine bemerkenswerte Ansage, „Intolleranza 1960“ des bekennenden Kommunisten und Antifaschisten Nono zum Spielzeitbeginn an der Komischen Oper aufzuführen. Es ist zugleich die Antrittspremiere des neuen Intendanten-Duos Susanne Moser und Philip Bröking. Eigentlich spielt das Stück in einem Bergarbeiterdorf, auf einem Polizeirevier, in einem Konzentrationslager oder am Ufer eines großen Flusses bei Hochwasser. Ein Bergarbeiter, den man vor Jahrzehnten noch Gastarbeiter nannte, will in seine Heimat zurückkehren. Der „Emigrante“ gerät in eine Demo, wird verhaftet, gefoltert, trifft auf wichtige Weggefährten und gerät in die Sintflut.

Die Uraufführung von Nonos „Intolleranza“ war 1961 in Venedig von neofaschistischen Gruppen torpediert worden. Das „Ideentheater“, so nannte es der Komponist, war ein glühender Aufschrei gegen Intoleranz. Brechts „An die Nachgeborenen“ ist in der Textcollage zitiert. Ebenso Verhörprotokolle aus dem Algerienkrieg, Parolen aus dem Nachkriegsdeutschland oder dem spanischen Bürgerkrieg.

Es gibt keine Bergarbeiter, Demonstranten oder Gefangene

All das schiebt Regisseur Štorman beiseite. Es gibt keine Bergarbeiter, Demonstranten oder Gefangene. Einzig ein klappriges Boot, das sich der Emigrant oder Flüchtende aus Resten zusammenbaut, wird als Bild greifbar vorgeführt. Štorman schwebt insgesamt eher eine moderne Passion auf die Toleranz vor. Es bleibt eine ängstlich jeden Realismus meidende Deutung, die nichts mit Nonos Aufschrei zu tun hat. Bei Štorman wird eine innere Freiheit beschworen, ohne sinnfällig darzustellen, um welche Freiheit es geht.

In der Komischen Oper wird ein Text Carolin Emckes von der Schauspielerin Ilse Ritter vorgetragen. Sie verkörpert auf der Bühne einen schwarzen Engel der Geschichte. „An den Füßen stirbt man zuerst. Was immer sonst in die Tasche für die Flucht gehört, das ist das wichtigste. Ohne die richtigen Schuhe kein Überleben.“

Carolin Emckes Textbeitrag ist eine poetische Insel in der Oper

Carolin Emckes gesprochener und im Programmheft abgedruckter Text ist eine poetische Insel in Nonos Collage. Es überrascht ein wenig, weil die Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels zuerst als Journalistin und Publizistin für objektive Berichterstattung steht, aber hier in die subjektive Wahrnehmungsperspektive eines kriegstraumatisierten Opfers schlüpft. Ihr Text ist berührend.

Die Solistenschar ist sehens- und hörenswert. Sean Panikkar kann sich als Emigrante mit seinem schneidigen Tenor den Weg durch die Eiswüste bahnen. Gloria Rehm als „Seine Gefährtin“ und Deniz Uzun als „Eine Frau“ verkörpern eindrucksvoll die Sehnsüchte zwischen Bleiben und Gehen. Tom Erik Lie ersingt dem Algerier ein starkes Format.

Komische Oper, Behrenstr. 55-57, Mitte. Termine: 25., 27., 29.9., 1., und 3.10.