Hauptbild
„La gazza ladra“ im Museumsquartier, Ausweichspielstätte des Theaters an der Wien. Foto: Monika Rittershaus
„La gazza ladra“ im Museumsquartier, Ausweichspielstätte des Theaters an der Wien. Foto: Monika Rittershaus
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Der radelnde Bote des Königs: Rossinis „La gazza ladra“ am Theater an der Wien

Publikationsdatum
Body

Am Ende ist es gerade nochmal gut gegangen. In buchstäblich letzter Sekunde. Immerhin werden zwei Todesurteile nicht vollstreckt, sondern kassiert. Das eine gegen die junge Frau Ninetta, die angeblich die sprichwörtlichen Silberlöffel geklaut hat, erweist sich als krasses Fehlurteil. Nicht sie war die Diebin, sondern eben jene diebische Elster, die diesem durchschlagenden Opernerfolg von Gioachino Rossini im Jahre 1817 zu ihrem Titel verholfen hat.

Das zweite Todesurteil betraf ihren Vater. Dieser Fernando Villabella (mit phänomenaler Wucht: Paolo Bordogna) war desertiert, hatte sich von der Tochter auf der Flucht helfen lassen und sich nur gestellt, um sie zu retten. Ihn rettet der (hier) gerade noch rechtzeitig herbei radelnde sprichwörtliche Bote des Königs mit einem Gnadenerlass.

Wie in der Oper üblich wird das Nest der Elster mit all dem zusammengeklauten Glitzerzeug ebenso rechtzeitig entdeckt, wie auch die königliche Depesche ihren Zweck  erfüllen kann. So ausführlich wie die Beinahe-Katastrophe von allen in aller Ausführlichkeit beklagt wurde, breitet sich dann der Jubel des Dorfes aus. Diese Wende gibt es auch deshalb, weil allen bewusst geworden ist, dass sie selbst beinahne mitschuldig geworden wären: Für die potentielle Schwiegermutter Ninettas, Lucia (Marina de Liso), ist ihr Tafelsilber offenbar ihr größter Schatz. Noch vor ihrem Sohnemann Giannnetto (Maxim Mironov mit feinem geschmeidig höhensicherem Tenorschmelz), den sie nicht an Ninetta verlieren will. Als im Besteckkasten was fehlt, zeigt sie Ninetta an und betreibt ihre Verurteilung mit Vehemenz, merkt aber doch bald, dass sie zu weit gegangen ist und kommt ins große Zweifeln. Die höchste Amtsperson im Dorf, der Podestà (mit mafiosem Selbstbewusstsein: Nahuel Di Pierro), hat selbst ein Auge auf Ninetta geworfen und nutzt das Ganze, um sie unter Druck zu setzten, sich dann als ihr Retter aufzuspielen, in der Hoffnung sie so rumzukriegen.

Hatte er (aus purem Eigeninteresse) schon eingegriffen, als die aufgeputschten Massen kurzen Prozess machen wollten, so kommt auch er im Laufe der Zeit zu der Erkenntnis, dass er zu weit gegangen ist und versucht sich gegen die Katastrophe zustellen. Sogar Ninettas Freund Pippo (burschikos: Diana Haller) hatte eine belastende Aussage gegen sie gemacht, das aber bereits da bereut. Und die Leute im Dorf? Die liefern ein Musterbeispiel für Manipulierbarkeit und Opportunismus - erst kann es ihnen nicht schnell genug gehen mit dem Prozeß und der Hinrichtung und dann sind sie dagegen. Den Arnold Schoenberg Chor hat Erwin Ortner dazu - wie üblich bei Produktionen des Theaters an der Wien -  bestens einstudiert.

Da Tobias Kratzer die Handlung so wie sie überliefert ist, in eine regional nicht näher definierte dörfliche Gegenwart fast von heute verlegt hat ist es eine packende, allgemeingültig Studie über Gruppendynamik und Eigenverantwortung des Individuums geworden. Vor allem aber eine Geschichte, die sich zuspitzt und ihre Spannung bis zum Schluss dieser dreieinhalb Bruttostunden hält, ja immer noch steigert. Nur die Soldaten ändern sich nicht, die bleiben was sie sind: eine verrohte Truppe. Dass es zur Entstehungszeit der Oper in den Nachwirren der napoleonischen Kriege mit dem Rechtsstaat nicht zum besten stand, übersetzt die Inszenierung schon während der Ouvertüre - da dringen Soldaten bei Lucia und Fabrizio (Fabio Capitanucci) ein, bedrohen die Frau und plündern, was sie wegschleppen können. Ein einziger unter ihnen verhindert den Übergriff auf die Frau des Hauses. Als die Soldaten wieder abgezogen sind, ist Lucia erleichtert, dass ihr wenigstens ihr Tafelsilber geblieben ist.

Kratzers langjähriger Ausstatter Rainer Sellmaier hat für diese Geschichte eine Art Dorfsetzkasten in zwei Ebenen gebaut und ihn geradezu naturalistisch ausstaffiert. Bis zum Fliegenfänger überm Küchentisch. Ein großes Tor mit verschmutzten Oberlichtern in der Mitte, links einen Schuppen, in dem immerhin Robert Lillinger mit seinem Hammerklavier Platz findet, eine Küche, ein Dachboden. Hier kann der Podestà großkotzig mit seinem Benz vorfahren, hier lässt sich eine Zelle für Ninetta unterbringen und hier kann das ganze Dorf auf- und abmarschieren. Nino Machaidze ist als Ninetta vokal eher die tragisch bedrängte Frau, als das unschuldige junge Mädchen vom Lande, macht ihre Sache aber insgesamt überzeugend.

Opera semiseria, was so viel wie halb ernst bedeutet, lautet die Bezeichnung des Werkes. Bei Tobias Kratzer ist dieses „halb“ eine Untertreibung. Wenn man von einer humorvollen und witzigen Klammer absieht, ist diese Rossini-Oper in seiner Interpretation, die jetzt in der Ausweichspielstätte von Wiens interessantestem Opernhaus im Museumsquartier Premiere hatte, vor allem ernst. Todernst sogar, wenn auch ohne Tote. Der Witz ist die Einleitung; wie bei seinem Bayreuther Tannhäuser ein Video aus der Perspektive einer Drohne. In dem Falle der Elster. Wir schauen mit ihren Augen auf die Welt (Video: Manuel Braun und Jonas Dahl). Man sieht noch die Schnabelspitze. Und einmal sieht man die Elster im Spiegel. Was glitzert sammelt sie ein. Ein Schlüsselbund oder eine Kette hier, ein Silberlöffel da. Sie hat im Hause Vingradito sogar ihren Käfig.

Am Ende, als ihre Schuld klar ist, wird sie gejagt. Ninetta, die inzwischen ja bitter erfahren hat, was es bedeutet, gejagt zu werden, rettet sie und lässt sie fliegen. Und wir sehen wohin sie fliegt: aus dem Museumsquartier geradewegs ins Kunsthistorische Museum. Ihr Ziel: die berühmte Saliera von Benvenuto Cellini, die 2003 von dort für ein paar Jahre verschwunden war und ganz Österreich in Aufregung versetzt hatte. Nun wird man den Prozeß gegen die Diebe wohl nicht noch mal aufrollen. Aber eine nette, tröstliche Opernpointe ist das nach dieser Aufregung allemal.

Antonino Fogliani hat dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien sowohl die passende Rossini-Frische verliehen als auch mit der erstaunlich dramatisch aufbrechenden Verzweiflung Eindruck gemacht. Das Timing im Graben geht Hand in Hand mit dem szenischen auf der Bühne, wo Kratzer natürlich auch mit seiner Personenregie für ein  zurecht bejubeltes Ensemble glänzt.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!