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Opern-Kritik: Theater an der Wien – La Gazza ladra

Nicht alle Löffel im Besteckkasten

(Wien, 16.11.2022) Tobias Kratzer verlegt im Theater an der Wien Rossinis zu Vierfünfteln ernste „Die diebische Elster“ ziemlich nah an unsere Gegenwart heran, was mit der Musik ganz wunderbar stimmig einhergeht.

vonRoberto Becker,

Ein Zitat von Rossini im Programmheft ist einfach zu schön, als dass man es unterschlagen könnte: „Die Ouvertüre zur Diebischen Elster habe ich am Tage der Uraufführung unter dem Dach der Scala geschrieben, wo mich der Direktor gefangen gesetzt hatte. Ich wurde von vier Maschinisten bewacht, die die Anweisung hatten, meinen Originaltext Blatt für Blatt den Kopisten aus dem Fenster zuzuwerfen, die ihn unten zur Abschrift erwarteten. Falls das Notenpapier ausbleiben sollte, hatten sie die Anweisung, mich selbst aus dem Fenster zu werfen.“ So, laut Programmheft, der Meister – wann und wo auch immer. Zum Glück war Rossini schnell und flog nicht aus dem Fenster, sondern ließ seinen diebischen Vogel losflattern. Besagte Ouvertüre für seinen durchschlagenden Uraufführungserfolg an der Scala 1817 hatte sogar noch mehr Puste als die ganze Oper und übernahm die Rolle als Platzhalter für das Werk in den Konzertsälen.

Der mehr als halbernste andere Rossini

Rossinis Ruf wird heute vor allem durch das pure Vergnügen seiner Belcanto-Schmankerln bestimmt. Sein „Il Barbiere di Siviglia“ und „La Cenerentola“, aber auch die „L’italiana in Algeri“ haben einen Stammplatz im Repertoire und taugen immer noch als Kassenfüller. Doch er konnte auch anders. Es gibt nämlich einen ziemlich ernsten Rossini. Auch wenn seine „La gazza larda“, die Diebische Elster, als semiseria, als halb ernst, gekennzeichnet ist, gehört sie, trotz des zwar stückadäquaten, aber dennoch putzig wirkenden Titels eher in die Abteilung fürs Ernste bzw. ganz und gar Ernsthafte seines Gesamtwerkes.

Szenenbild aus „La Gazza ladra“ am Theater an der Wien
Szenenbild aus „La Gazza ladra“ am Theater an der Wien

Welche Gegenwartsrelevanz haben Opernblockbuster?

Regisseur Tobias Kratzer, der jetzt am Theater an der Wien, in dessen Ausweichspielstätte im Museumsquartier, die Inszenierung besorgte, hat neben einer „Italienerin in Algier“ (Weimar) auch schon zwei von Rossinis Opernschwergewichten inszeniert. In Lyon „Guillaume Tell“ als Lehrstück über den Preis der Freiheit und in Aix-en-Provence, im letzten Sommer, „Moses et Pharao“ als eine Spurensuche nach dem Vergangenen in der Gegenwart. Er hat also heute eher selten gespielte, einst aber erfolgreiche Opernblockbuster auf ihre Gegenwartsrelevanz hin befragt, ohne dabei die Geschichte zu unterschlagen oder sich gegen die Musik zu stellen.

Szenenbild aus „La Gazza ladra“ am Theater an der Wien
Szenenbild aus „La Gazza ladra“ am Theater an der Wien

Das titelgebende Federvieh spielt mit.

Genau das macht er auch jetzt mit der „Diebischen Elster“. Das titelgebende Federvieh spielt hier sogar mit. Mal ruft sie Namen dazwischen. Mal bekleckert sie den Mercedes des Podestà. Mal haut sie eine Mütze vom Kopf. In der Hauptsache aber sammelt sie alles, was glitzert und blinkt. Ein verlorenes Schlüsselbund hier, eine Kette da. Und eben auch mal einen Silberlöffel. Amüsant (und damit ist die komödiantische „Hälfte“ der semiseria abgedeckt) ist die Vogelperspektive, die Manuel Braun und Jonas Dahl mit ihren Drohnenaufnahmen für die Flugvideos einnehmen. Aus der Elsterperspektive wird so alles, was blinkt und glitzert zu den Rosinen auf dem Kuchen Welt. Am Ende, als endlich klar ist, dass die Elster stibitzt hat, zieht sie alle Wut auf sich. Aber die gerade gerettete Ninetta lässt den Vogel frei. Und wir sehen, wie die sich vom Museumsquartier geradewegs in die Prunkkulisse des Kunsthistorischen Museums aufmacht und die (2003 schon mal von menschlichen Langfingern geklaute) Saliere ins Visier nimmt.

Szenenbild aus „La Gazza ladra“ am Theater an der Wien
Szenenbild aus „La Gazza ladra“ am Theater an der Wien

Was so ein Federvieh so alles anrichten kann

Was die Elster im Stück aber mit ihren Diebststählen im Paralleluniversum der Menschen anrichtet, hat um ein Haar tödliche Folgen! Denn die Besitzerin hat ihr Hausmädchen in Verdacht. Und da sie obendrein ihren Sprößling Giannetto (mit wunderbar geschmeidiger Tenorhöhe: Maxim Mironov) nicht an diese besagte Ninetta loswerden will, wird sie zum Schwiegermutterdrachen, noch bevor die beiden zusammenkommen. Nino Machaidze ist eine vokal großformatige Ninetta, die vor allem da auch darstellerisch überzeugt, wo sie bedrängt wird. Als der Löffel im Besteckkasten fehlt, da kann es natürlich nur Ninetta gewesen sein. Hinzu kommt, dass die ihrem Vater, der sich beim Militär durch eine Unbeherrschtheit selbst in eine missliche Lage manövriert hat, beim Verkauf seines eigenen (Rest-)Silbers hilft, um ihm Geld für die Flucht zu verschaffen. Wie es das Opernpech so will, haben die beiden Familien auch noch die gleichen Initialen! FV steht für Ninettas Vater Fernando Villabella (Paolo Bordogna stattet ihn mit vokaler Pracht aus), und FV steht auch für Fabrizio Vingradito – Fabio Capitanucci ist der Ehemann hinter der Hüterin von Tafelsilber und Sohnemann von Lucia (Marina de Liso). Verschärft wird das Ganze, weil es mit der Justiz in diesem Operndorf nicht allzu weit her ist. Da spiegelt sich in der Oper das Drunter- und Drüber der Zeit nach den napoleonischen Kriegen und dem Wiener Kongress wider. Der Podestà (überzeugend übergriffig: Nahuel Di Pierro) kann ziemlich willkürlich Recht sprechen bzw. verbiegen, weil er auf die junge Angeklagte scharf ist und den Gönner spielen will.

Szenenbild aus „La Gazza ladra“ am Theater an der Wien
Szenenbild aus „La Gazza ladra“ am Theater an der Wien

Das Nest der Diebischen wird entdeckt

Es ist erstaunlich, wie bruchlos sich das in die jüngere Vergangenheit übertragen lässt, ohne dass es auch nur ansatzweise aufgesetzt wirkt. Das machen Kratzer und sein Ausstatter Rainer Sellmaier nämlich mit geradezu akribischem, naturalistischem Charisma. Zwei Ebenen mit Küche, Dachboden, Schuppen und großem Tor. Ein exemplarisches Dorf, in dem der moralische Kompass mit seiner Einordnung auf das Recht abhandengekommen ist und in dem die eigener Logik gehorchenden Soldaten den Ton angeben, die zu einer tolerierten Eskalation der Gewalt führt. Als eine Kreissäge herbeigeschafft wird, um Ninetta die Finger oder die Hand abzutrennen, macht sich Lucia zur aktiven Helferin dieser Beinahe-Selbstjustiz, die das Eingreifen des Podestà dann doch verhindert. Das Interessante und auch Packende ist aber, dass hier alle erst sehr spät noch mitkriegen, was sie da eigentlich in Gang gesetzt haben. Vater und Tochter sind verurteilt und werden schon zur Hinrichtung geführt, als – und das ist dann das Opernglück – jenes Nest entdeckt wird, in dem die Elster ihr Sammelgut gehortet hat, und für den Vater ein Postbote angeradelt kommt, der einen Gnadenerlass des Königs dabei hat.

Szenenbild aus „La Gazza ladra“ am Theater an der Wien
Szenenbild aus „La Gazza ladra“ am Theater an der Wien

Einhelliger Jubel

So kann dann die großformatige Klage von Solisten und Chor (den Arnold Schoenberg Chor hat Erwin Ortner in Hochform gebracht) in Erleichterung und Jubel umschlagen. Und das Publikum durchatmen und sich über den Aus-Flug in den benachbarten Museumspalast freuen. Besonders aber über Antonio Fogliani und das ORF Radio-Symphonieorchester Wien, das sich bei diesem mindestens vierfünftelernsten Rossini bestens bewährt hat und auch mit der Akustik in der Ausweichspielstätte klar kam. Am Ende war der Jubel nach einem langen Abend für alle einhellig.

Theater an der Wien
Rossini: La Gazza ladra

Antonino Fogliani (Leitung), Tobias Kratzer (Regie), Rainer Sellmaier (Bühne & Kostüm), Michael Bauer (Licht), Fabio Capitanucci, Marina de Liso, Maxim Mironov, Nino Machaidze, Paolo Bordogna, Nahuel Di Pierro, Diana Haller, Riccardo Botta, Johannes Bamberger, Timothy Connor, Alexander Aigner, Zacharias Galaviz, Arnold Schoenberg Chor, ORF Radio-Symphonieorchester Wien

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