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„L'amour est difficile.“ – Nancy: „Tristan und Isolde“ im Archiv der Poesie. Foto:  Jean Louis Fernandez.
„L'amour est difficile.“ – Nancy: „Tristan und Isolde“ im Archiv der Poesie. Foto:  Jean Louis Fernandez.
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„L'amour est difficile.“ – Nancy: „Tristan und Isolde“ im Archiv der Poesie

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Eine hochintellektuelle und zutiefst emotionale Verortung von Richard Wagners Radikal-Musikdrama „Tristan und Isolde“. Tiago Rodrigues wühlt bei seinem Operndebüt im semantisch-sensitiven Speicher des kollektiven Gedächtnisses. An der Opéra national de Lorraine in Nancy singt Dorothea Röschmann mit intensiver Lyrik ihre erste Isolde, der australische Tenor Samuel Sakker einen phänomenalen Tristan. Das Orchester und das exzellente Ensemble interpretieren Wagner mit ausdrucksvoller Skalierung von Melancholie und Kantabilität. Nach starkem Beginn zieht sich Dirigent Leo Hussain leider in ein Schneckenhaus aus sentimentaler Emphase zurück. Sofia Dias und Vítor Roriz werden als choreographische Wortgeber zu Hauptpartien.

Archiv der Poesie

Ein Archiv, wohlgemerkt keine Bibliothek! Das Tanzduo Sofia Dias und Vítor Roriz zieht im langen stummen Prolog eine Tafel nach der anderen aus den Regalen. Große Worte in französischer Sprache stehen auf diesen über ganz große Emotionen. Nach fünf Stunden sind es fast tausend Tafeln, die Dias und Roriz zum Hügel des kollektiven Poesie-Gedächtnisses türmen. Vor den ersten Streicherklängen gibt es auch ein paar Warnschilder vor dem indisch-keltisch-bretonisch-stauffischem „Tristan“-Mythos bei Wagner und dessen genialer Partitur „en Allemand“. Da regt sich leiser Unmut im Publikum. Jetzt setzt die Musik ein. Im berüchtigten „Tristan-Akkord“ beginnt zum Vorspiel ein Tanz von Augen und Händen, das sich erst Stunden später in den wenigen Berührungen von Tristan und Isolde fortsetzt: Die Frau mit umfangenden, der Mann mit offenen fordernden Armen. Das Schleppen und Zeigen der Tafeln gerät zum Hochleistungssport. Die fragmentierten Texte leiten das Publikum durch Wagners deutschen Wortdschungel. Ruhe wird erst, als Dorothea Röschmann den Liebestod mit berückendem Piano krönt, so ans Ende der Sprache und von Isoldes persönlicher Sehnsucht gelangt. Sogar Schwerter sind Texttafeln: „L`épée“.

Tiago Rodrigues, der Festivalleiter von Avignon, ist ein Humanist. Er nähert sich für seine erste Operninszenierung Wagner und dem Stoff mit hoher Humanität. In José António Tenentes nachtblauen bis erdgrauen Kostümen schreitet das Ensemble durch Fernando Ribeiros Drei-Etagen-Archiv. Nie ganz bei den Figuren des universellen Tristan-Mythos und deshalb ganz bei deren existenziellen Gefühlen, nach denen sich insgeheim doch alle sehnen. Rodrigues arbeitet ähnlich offen wie sein Avignon-Kollege Romeo Castellucci, schwebt aber himmelhoch über dessen engem Katholizismus und ist auch frei von den aufgesexten Regie-Attacken Olivier Pys. Kein Verlegenheitsgegrabsche also im langen Liebesduett, dafür nachdrücklich leuchtende Intensität. Weil Rodrigues mehr auf das vom Abendland in Jahrhunderten generierte Nachdenken über die Liebe und weniger auf die Hormonausschüttungen in Wagners revolutionären Musikphantasien zielt, kommt es zur ganz hohen und nie plakativen Identifikation mit der Dreifaltigkeit von Emotion, Eklat und Exzess. Einige Plätze bleiben nach der zweiten Pause leer. Aber Kneifen bei dem 1865 in München uraufgeführten Kraftstück ist legitim, weil Rodrigues’ wuchtiger Vorstoß in die Sinnlichkeit nach leicht sterilen Beginn voll hart ist.

Emotion, Eklat und Exzess

Tristan stirbt am Berg der Worttafeln, Isolde verlöscht in sanfter Umarmung mit den Tänzern. Das bereits von Nietzsche kritisierte Schwadronieren Wagners im Schein-Komplizierten schraubt Rodrigues damit auf die faktische Basis: Also auf „den traurigen Mann“, „die traurige Frau“ und den Kosmos an Gedachtem, Gefühltem, Erinnertem, Erhofftem zwischen beiden Wesen. Geschlecht, Hautfarbe, Sozialisation sind so egal wie die den Anstoß zur „Tristan“-Komposition gegebene Liebe Wagners zu Mathilde Wesendonck. Rodrigues plädiert dennoch plausibel für ein Recht auf die Berauschung durch Liebe, am besten mit langer Lust in Ewigkeit. Aber er begnügt sich nicht damit. Rodrigues begründet auch, warum die „Himmelsmacht“ eine philosophische wie verifizierbare Größe ist und deren Negation zur spirituellen Mangelerscheinung führt.

Rodrigues’ visuelle Schlichtheit sowie die emotionale Größe seines Nachdenkens über „Tristan und Isolde“ vor und neben Wagner sind radikal. Man muss lange zurückdenken, um ähnlich versachlichtes Aufpeitschen zu erinnern – etwa Heiner Müllers „Tristan“ bei den Bayreuther Festspielen, Gerald Thomas’ Inszenierung am Deutschen Nationaltheater Weimar, Ruth Berghaus in Hamburg: Rodrigues treibt „Tristan und Isolde“ in einen emotionalen Orgasmus, der an der Place Stanislas 5 Minuten vor Mitternacht in Schönheit stirbt.

„Der traurige Mann“ – „Die traurige Frau“

Die Partiendebütantin Dorothea Röschmann imponiert mit ausdrucksvollen, deutlichen und in den richtigen Momenten nach außen oder innen strahlenden Töne. Samuel Sakker ist ein noch lyrischer, in den langen Monologen des dritten Aktes konditionierter und am Ende sogar mit vokalem Samt zulegender Tristan. Die Akustik des Hauses stützt und stärkt, was beider Leistung noch steigert. Beim gesamten Cast hatten Intendant Matthieu Dussouillez und seine Crew eine glückliche Hand. Aude Extremo ist eine intensive Brangäne mit prunkvoller Mezzo-Tiefenbasis, Scott Hendricks ein Kurwenal im balsamischen Dauer-Fortissimo, Jongmin Park ein lyrischer Marke mit bewegenden Akzenten im Detail und auf der großen Monolog-Linie. Peter Brathwaite als Melot wie Alexander Robin Baker als Hirt und junger Seemann sekundieren auf dem angemessen hohen Niveau. Der Männerchor singt live aus der oberen Proszeniumslogen, mit den Hörnern von Markes Jagd und dem Englischhorn für Tristans schmerzende Einsamkeit auf Kareol kommt es zu schönen Raumwirkungen.

Feine Voraussetzungen für dieses Ensemble liefert das Orchestre de l’Opéra national de Lorraine. Es gibt sich souverän ohne Überdruck, wie ihn deutsche Orchester beim Gerangel um die beste geschärfte Wagner-Kompetenz gern an den Tag legen. Die lothringische Wagner-Formal befindet sich auf der Strecke zwischen Melancholie und elegischer Sanglichkeit. In den ersten Takten des Vorspiels überspringt man die harmonischen Schärfen und gelangt schnell zur von den Bläsern angeführten Elegie. Schade, dass in der Liebesszene das große Tag-Nachtgespräch gestrichen wurde, weil die Solostimmen mit den Musikern im Gesamtklang verwoben scheinen statt darüber zu glänzen. Je später, desto gleichförmiger die Klänge. Das liegt nicht an den gerade im dritten Akten intensiv beteiligten Musikern. Leo Hussain lässt sich zu Beginn sehr gern vom Klangkörper flankieren, über den er häufig mit schwärmerischen Augen hinwegblickt. Später lauscht Hussain lieber den „Tristan“-Visionen in sich als dem wissenden Ausdruck der Musiker. Dem Melos, der Emphase und der intelligiblen Kraft würde mehr dirigentische Strukturklarheit guttun. Nichtsdestotrotz gerät „Tristan und Isolde“ in Nancy durch die philosophische und vokale Dimension zu einem großen Abend.

  • Vorstellungen: So 29.01. (Premiere) – Mi 01.02. (besuchte Vorstellung) – Sa 04., Di 07., Fr 10.02.2023

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