Musical „Tom Sawyer“ :
Mitreißender Klangfluss Mississippi

Von Clemens Haustein
Lesezeit: 4 Min.
Soziale Enge und gesellschaftliches Elend – und trotzdem ist ihm der Mississippi der Inbegriff von Sehnsucht: Tom Shimon in der Titelrolle des Tom Sawyer
Kurt Weills Musical „Tom Sawyer“ blieb Fragment. John von Düffel hat jetzt ein Libretto für eine gelungene Vollendung vorgelegt – und die Komische Oper Berlin mit rauschendem Erfolg uraufgeführt. Es ist der reinste Broadway-Luxus.

Mississippi – ein Wort von verführerisch exotischem Klang: elastisch tanzend in der Folge der vier Silben, sonnenhell in der Wiederholung des Is, frech zischelnd mit all den s, zum Schluss übermütig von den Lippen abspringend mit doppeltem p. Der Klang allein regt schon die Phantasie an, umso mehr noch die Geschichten jenes Autors, der dem Fluss, an dem er seine Kindheit verbrachte, weltweite Bekanntheit verschaffte: Mark Twain.

Mississippi – durch den amerikanischen Autor war das Wort für Generationen der Inbegriff einer Sehnsucht nach Ferne und Weite. Über seine Zeit als Lotse auf einem Flussdampfer schrieb Twain die Erinnerungen „Leben auf dem Mississippi“, die beiden Bände mit Abenteuern von Tom Sawyer und Huckleberry Finn, Mark Twains wohl bekannteste Bücher, sind ebenfalls gespeist aus Erinnerungen an seine Kindheit in der Kleinstadt Hannibal.

Der Spaß, der eigenen Beerdigung zuzuschauen

Um die große Freiheit geht es da, die der Fluss den Kindern verspricht, aber auch um Liebe und Anerkennung durch die Älteren. Denn nichts freut Tom Sawyer so sehr wie die Grabrede, die auf ihn und seine Freunde gehalten wird, vermutend, dass sie im Fluss ertrunken seien (dabei spielten sie auf einer Insel Piraten). Die Freude, aus dem Mund des Pfarrers zu hören, was für ein guter Mensch man gewesen sei, ist noch größer als jene über den Knalleffekt, plötzlich als wunderbar Auferstandene aufzutauchen. Twain beschreibt aber auch soziale Enge und gesellschaftliches Elend. Ironie und stilistischer Schliff machen seine Erzählung gleichermaßen zu einer für die Älteren.

1950 machten sich Kurt Weill und sein Librettist Maxwell Anderson in New York an ein Musical „Tom Sawyer“, innerhalb weniger Wochen entstanden fünf prägnante, in ihrer melodischen Erfindung herausragende Songs. Kurt Weills Tod setzte dem Projekt ein Ende. Die fünf Songs wurden postum uraufgeführt, liefen nun unter der Bezeichnung „Huckleberry-Finn-Songs“, die Idee einer Vervollständigung zu einem kompletten Musical wurde erst sehr viel später aufgegriffen. 2014 kam es am Deutschen Theater in Göttingen zur Uraufführung eines „Tom Sawyer“-Musicals, für das der Librettist John von Düffel Texte schrieb. Aus weiteren Songs aus Kurt Weills später, vom Broadway-Stil beeinflussten Schaffensperiode wurde im Parodieverfahren Musik herangezogen, um die Lücken für ein abendfüllendes Werk aufzufüllen. Die Fassung wurde an verschiedenen Theatern erfolgreich auf die Bühne gebracht, „Schauspielfassung“ heißt sie, weil es jetzt auch eine Fassung für die Oper gibt, mit rauschendem Erfolg uraufgeführt an der Komischen Oper Berlin.

Kinderoper – als solche wurde das Musical nominell auf die Bühne gebracht – hat eine große Tradition am Haus: Man lässt sich an der Komischen Oper nicht lumpen, setzt ein großes Orchester in den Graben, verteilt Kompositionsaufträge und beweist bei der Auswahl der Stoffe meist einen guten Riecher. Vor drei Jahren begannen die Vorbereitungen zum „Tom Sawyer“-Musical, angeleitet vom Chefdramaturgen Ulrich Lenz, der mit der kommenden Spielzeit die Intendanz der Oper Graz übernehmen wird.

Wie viel Weill ist noch drin?

John von Düffel überarbeitete sein Libretto für den neuen, größeren Rahmen, Kai Tietje arrangierte Kurt Weills Musik für großes Orchester – und zwar fabelhaft: im luxuriösen, geschmeidigen Broadway-Stil, kurzweilig im Farbwechsel der Instrumente (auch ein Banjo und ein verstimmtes Klavier gehören zum Instrumentarium), mitreißend im Klangfluss der Streicherkantilenen. Als Dirigent der Aufführung kümmert sich Tietje gleich selbst um die Realisierung seines Arrangements; die Frage, wie viel Kurt Weill darin nun wirklich enthalten ist, verblasst angesichts des gelungenen Ergebnisses.

Eine zentrale Rolle nimmt Weills „River Chanty“ ein, einer der Huckleberry-Finn-Songs, der schon in der Klavierfassung mit ausgreifendem Gestus von der Weite des Flusses erzählt, den er besingt. Hier nun wird das Lied zur Hymne, die das Stück durchzieht, und wie John von Düffel „Missi-ssippi“ singen lässt, wo es im Original „River-River“ heißt mit kuckuckhaft abfallender Terz, klingt es so sehnsüchtig wie zärtlich. Von Düffels Libretto ist überhaupt stark: witzig, ohne sich anzubiedern, temporeich, ohne der Hast zu verfallen, und so, dass Jüngere wie Ältere auf ihre Kosten kommen. Es gibt keinen Grund, das neue Werk im Begriff „Kindermusical“ einzuhegen, dem Jubel in der Komischen Oper nach zu schließen spricht es alle Altersschichten an – in bester Nachfolge Mark Twains.

Tobias Ribitzkis phantasievolle, pointenreiche Regie tut ein Übriges, Stefan Rieckhoff lässt in Bühnenbild und Kostümen alte Zeiten auferstehen, ohne peinlich nostalgisch zu sein. Tom Schimon singt und spielt den Tom Sawyer mit schönster Bühnenchuzpe, Josefine Mindus ist eine in Darstellung und Gesang hinreißende Becky, Christoph Späth gibt den Killer-Joe (in Twains Original heißt er noch Indianer-Joe) mit Lust am Fiesen, Michael Heller ist ein Huckleberry Finn, mit dem jeder gerne Pferde stehlen würde. Das wandlungsfähige Orchester der Komischen Oper tritt mit Drive und Charme auf, der Kinderchor, geleitet von Dagmar Fiebach, spielt und singt bei seinen zahlreichen Auftritten so unbeschwert und begeistert, dass es eine Freude ist. Und der Mississippi scheint immer anwesend, im weiten Fließen einer Musik, gegen die Kurt Weill bestimmt nichts gehabt ­hätte.