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Bergs „Lulu“ in Darmstadt: Wenn das Gleichgewicht wiederhergestellt wird

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Lulu, die grandiose Juliana Zara, auf dem Podest und beim Wahren ihrer letzten Geheimnisse. Foto: Nils Heck
Lulu, die grandiose Juliana Zara, auf dem Podest und beim Wahren ihrer letzten Geheimnisse. Foto: Nils Heck © Nils Heck

Eine zutiefst überzeugende „Lulu“ am Staatstheater Darmstadt.

Spätestens wenn Mädchen anfangen, Klassiker für Erwachsene zu lesen, gewöhnen sie sich daran, Frauen aus männlicher Perspektive kennenzulernen. Das erweitert den Horizont, was ein Vorteil ist, so lange man nicht vergisst, wer da blickt und spricht. Im traditionell männerdominierten Musiktheater potenziert sich das noch einmal – auch dies ein Allgemeinplatz, der aber wieder Wucht hat, wenn es um einen Kulminationspunkt dieser Gemengelage geht. Lulu. Von Männern erdacht, außerhalb und innerhalb von Frank Wedekinds Dramen „Erdgeist“ und „Büchse der Pandora“, außerhalb und innerhalb auch von Alban Bergs Oper (mit Friedrich Cerhas Fertigstellung).

Selbstverständlich ist es heute kein Thema mehr, wenn eine Frau inszeniert, aber im Falle der „Lulu“ ist Neugier am Platze, und Eva-Maria Höckmayr enttäuscht sie am Staatstheater Darmstadt nicht. Packend ist ihre hochkonzentrierte Lesart, im perfekten Verein mit einer Sternstunde des Staatsorchesters unter der Leitung von GMD Daniel Cohen. Bergs intrikate Musik klingt so leicht, dass ihr Gewebe einem vor Augen tanzt. Dem starken Ensemble bleibt Luft zum Schöngesang. Es wird keine Aufführung einer Zwölftonoper geben, in der sich nicht einige trollen, aber weniger Gründe werden sie selten dafür finden. Es gab klugerweise sogar zwei Pausen, was die Aufmerksamkeit kräftigte. Ein Barpianist spielte da, und das Bild, das der Maler, Peter Lodahl, von Lulu fertigt, wurde zugunsten des Darmstädter Frauenhauses lautstark versteigert (für 180 Euro!). Ein Abend aus einem Guss.

Paul Zollers Bühne wirkt zuerst riskant reduziert. In der Mitte der rot ausgelegten Drehbühne ein weißer Block, Podest und Altar zugleich. Schwarzer oder weißer Vorhang rahmt die Spielfläche. Zum Prolog in der Manege treten die 18 Darmstädterinnen auf, die Höckmayr zu Beobachterinnen bestimmt hat. Zur Stimme des Tierbändigers decken sie die Körper auf, die wie Leichen unter Laken liegen, auf dem Altar eine Stellvertreterin der bereits gemordeten Lulu, sternförmig um sie herum die anderen. Man begreift bald, dass Lulu mit den Frauen gekommen ist, jetzt stellt sie sich wie probeweise zur blutigen Stellvertreterin aufs Podest und bleibt eben dort. Es hätte auch eine andere sein können.

Die Beobachterinnen, wie Lulu selbst über weite Teile in hautfarbener Unterwäsche, ohne etwas von sich preiszugeben (Kostüme: Julia Rösler): ein zutiefst wirkungsvoller Einfall. Lulu, von Männern angestarrt, ist nicht nur nicht allein, es sind auf einmal auch die Männer, die wiederum von den Frauen gesehen werden. Als würde ein Gleichgewicht wiederhergestellt, mit dessen Hilfe sich die Geschichte jetzt – wie die Musik – natürlich und klassisch entwickeln kann (bei der Premiere nach einem Schreckmoment, als sich rumpelnd eine Scheinwerferkonstruktion lockerte und unterbrochen werden musste).

Innerhalb dieser klassischen Erzählung kann nun Lulu das Rätsel bleiben, das sie ist. Ensemblemitglied Juliana Zara, deren Sopran glasig klar, höhenrein und dabei völlig unangestrengt klingt, spielt das grandios unverbindlich und eben trotzdem mit jener einmalig luluhaften Art hingebungsvoll. Männer stören Lulu nicht. Den Dr. Schön, den kultiviert auftretenden und singenden Bassbariton Oliver Zwarg, der als Jack the Ripper keinen Deut anders aussieht, liebt sie. Den Schigolch, der bei Sten Byriel ohne Charles-Dickens-Überzeichnungen auskommt, mag sie. Mit Alwa, dem markant lichten Tenor Uwe Stickert, kommt sie aus – er ist der einzige in ihrem Alter, alle anderen ergraut oder lachhafte Kinder. Die Beziehung zur Gräfin Geschwitz, Katrin Gerstenberger, ist unhysterisch. Nebenfiguren wie der Gymnasiast und der Athlet, Lena Sutor-Wernich und Georg Festl, sind ausgezeichnet ausgeführt.

Nicht nur Lulu darf ein Rätsel bleiben. Auch Höckmayr liefert Rätselbilder. In roten Kleidchen und Goldilockperücken werden die Frauen zwischendurch doch zu (kühlen) Abziehbildern. Dass sich nicht alles zu Ende erklären lässt, entspricht dem Werk. Es ist, als sollte auf allen Ebenen auch dem Recht auf letzte Geheimnisse Raum gegeben werden.

Staatstheater Darmstadt: 25. März, 2., 8., 14., 21. April. www.staatstheater-darmstadt.de

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