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Oper „Dogville“ nach Lars von Trier: Das Schlechteste im Menschen

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Im Bau, im Schacht, jedenfalls kommt man hier nicht einfach raus. Die Bevölkerung von Dogville stimmt über Grace ab, die rechts wartet. Links der blinde Jack.
Im Bau, im Schacht, jedenfalls kommt man hier nicht einfach raus. Die Bevölkerung von Dogville stimmt über Grace ab, die rechts wartet. Links der blinde Jack. © Matthias Jung

Gordon Kampes effektvolle Oper „Dogville“ nach Lars von Trier am Aalto-Theater Essen.

Grace, die Philosophin und Jesus-Figur aus „Dogville“, ist so sehr eine Opernheldin, dass man nur staunen kann, wie lange es dann doch gedauert hat. Mehrere Sprechtheateradaptionen gab es schon – Lars von Triers Film von 2003 erzählt genau eine jener großen Geschichten, nach denen auch das Sprechtheater lechzt, aber um sie zu finden, muss es anscheinend allenthalben nach Romanen und Filmen greifen. Das Musiktheater hingegen hat in einem solchen Zusammenhang keinen Grund, mit sich zu hadern, es nimmt seine Textgrundlagen seit jeher von überall her, um dann etwas ganz eigenes und anderes daraus zu machen. Der Komponist Gordon Kampe berichtet, dass er keinen Moment gezögert habe, als die entsprechende Anfrage kam. Logisch. Corona verzögerte dann nach vertrautem Muster die Abläufe, nicht 2021, sondern erst jetzt hatte Kampes „Dogville“ am Aalto-Theater in Essen seine Uraufführung.

Alles packend, und zwar sofort. Die Musik mit scharfen Schlägen und schwerem Blech, die Optik effektvoll, abstrakt, offen und doch anders als im Film. Der berühmten Probebühnenfläche setzt Jo Schramm einen schrägen Schacht entgegen, der sich von der Seite hineinschiebt und allmählich quer über die ansonsten pechschwarze Bühne läuft. Immer wieder rückt er ein Stück weiter vor, gibt den Blick auf weitere (oder wieder dieselben) Räume in Dogville frei. Anders als auf der beschrifteten Fläche bei Lars von Trier geht es für Grace insofern zwar stetig voran, aber sie muss auch mit, kann nicht ausweichen, kann nicht einmal länger stehenbleiben. Nachher taucht noch eine Art Untergeschoss auf, wenn der Lastwagenfahrer Ben, Rainer Maria Röhr, eine eigene Kuhle in Form eines umgedrehten Autos bekommt. Mehr noch als ein Bergwerk ist das Ganze wohl ein Tierbau. Tabea Brauns Kostüme sind bunt und unverbindlich, nicht altmodisch, sondern eher retro. Diese Leute könnten jeder sein.

Musikalisch bietet Kampe eine ausgefeilte Polystilistik, flirrende Glissandi begleiten die Liebe, die nie auf festen Füßen stehen wird, finster massiv drohen Schlagwerk und Blech. Aber noch gespenstischer ist das scheinbar so arglose Geploinger und Geplinker, das Kampe dramatisch äußerst versiert immer wieder einbaut, um Dogville zu charakterisieren, Ort des stillen Schreckens und des züchtig auf den Nächsten geträufelten Gifts. Man tanzt auch in Dogville, man feiert mit ein wenig Folklore, man singt Kinderlieder. Es ist entsetzlich.

Eine wesentliche Grundentscheidung: Kampe und das Team um Regisseur David Hermann, der bereits am Libretto – in englischer Sprache – beteiligt war, lassen die Erzählerinstanz weg, verzichten damit auf die Brecht’schen Kommentierungen, lösen auch die Kapitelgrenzen zugunsten eigener kurzer Szenen auf und rücken den ganzen Verlauf deutlich dichter an die Hauptfigur Grace heran.

Kampe schreibt ihr sanfte, häufig sehr hoch liegende Melodielinien, mit denen die Sopranistin Lavinia Dames lässig fertig wird. Ebenso souverän stellt sie sich der merkwürdigen Situation, dass sie gewissermaßen nicht nur Grace, sondern auch Nicole Kidman spielt. Sie äfft nicht nach, sie gewöhnt uns allmählich und überzeugend daran, dass sie eine andere ist. Aber ebenso blond und ebenfalls zu elegant für diese stumpfe und freudlose Welt. Der Bariton Tobias Greenhalgh als Tom ist in Essen die andere zentrale Rolle, die Aufregung, die Kampe hier dem stimmlichen Verlauf gibt, entspricht Toms Verlegen- und Verlogenheit, bevor er selbst nur etwas davon ahnt.

Die Leute von Dogville um die beiden herum sind nun großes Ensembletheater. Hermann gibt ihren Bewegungen etwas traumhaft gedrosseltes, ohne dass es manieriert wirken würde. Von Raum zu Raum des ewig langen Schachts entwickelt sich ihre zunehmende Gewalttätigkeit umso unerbittlicher. Kampes Musik lässt sich auf die einzelnen Figuren feiner ein, als es das Ohr beim ersten Mal ganz wird fassen können. Es tut sich aber direkt eine keineswegs abstrakte, sondern intensive Opernsituation auf.

Spürbar wird das zum Beispiel beim blinden Jack, Andrei Nicoara, der mit profundem Bass ein sonores Gegengewicht zum durchaus plärrigen Dogville-Dorfton herstellt. Martha, Alice Lackner, ist in verhuschter und irgendwo beleidigter Dauerdefensive. Chuck, Heiko Trinsinger, dröhnt, seine Frau, Marie-Helen Joël, schnauzt. Das Kind Jason, Lenn Peris Beier, kommt mit seinem lieben und doch garstigen Lied an den Knaben Miles aus „The Turn of the Screw“ heran, was schon sehr beachtlich ist. Insgesamt reizt Kampe – an den Größten geschult und ein echter Musiktheatermann – aus, wie böse und dabei höchst lebendig das gesungene Wort sein kann. Tomáš Netopil hält das musikalische Geschehen mit Übersicht zusammen.

Das jüngste Gericht kommt nach 100 Minuten ohne Statisterie aus. Auch hier erschießt Grace Tom, ohne mit der Wimper zu zucken. Der schmucke Oldtimer, der sie abholt, fährt dann einfach langsam durch den Schacht. Explosionen, Feuer flackert auf, die jetzt ganz erbärmlichen Spanplatten kippen um. Eben haben hier noch Menschen gewohnt.

Aalto-Theater, Essen: 15., 23., 26. März, 1., 16., 30. April. www.theater-essen.de

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