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rechts Jennifer Holloway (Chrysothemis; rennend) und Aile Asszonyi (Elektra; liegend) sowie Ensemble. Foto: Monika Rittershaus
rechts Jennifer Holloway (Chrysothemis; rennend) und Aile Asszonyi (Elektra; liegend) sowie Ensemble. Foto: Monika Rittershaus
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Mythos im Psycho-Resort – An Frankfurts Oper ist Elektra eine tödlich schwer gestörte Frau

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Die Familie als Gefühlsabgrund, noch spezieller: eine schwierige Tochter-Vater-Beziehung – das kann der gebürtige Frankfurter Claus Guth feinfühlig und hochdifferenziert inszenieren. Iphigenie, Daphne, Senta oder Luisa Miller waren bislang Frauenschicksale, die der Musiktheaterfreund nicht vergaß. Nun also Richard Strauss und seine zu Sigmund Freuds Zeiten epochale „Elektra“ am „Opernhaus des Jahres“ Frankfurt.

Das für die Saison 2022 auch ausgezeichnete Frankfurter Museumsorchester zeigte mit dem scheidenden GMD Sebastian Weigle, dass Strauss zwar mehrfach klangmonumental „mythisch“ aufgetrumpft, aber ebenso das viele leise Elend dieser Atriden-Familie komponiert hat. Die Solisten mussten sich also nicht in lauter Dauer-Ekstase verausgaben. Ensemble-Wotan Simon Bailey sprang binnen vier Tagen als ruhig dunkler Orest ein. Susan Bullock – vor 19 Jahren Frankfurts Elektra – kehrte jetzt als mondäne Dame Klytämnestra zurück, die ohne Keifen, mehrfach auch diskret, dann aber ebenso gezielt scharfen Tönen ihre Alpträume vom Gattenmord behandelt wissen wollte. Der estnischen Sopranistin Aile Asszonyi gab Intendant Loebe die Möglichkeit zum Hausdebüt: ein voll und rund tönender Sopran, zum leisen Lauern wie zur tobenden Attacke fähig und immer wieder zum Klageton der existenziell Verletzten – mit expressivem Spiel wohl ihr Durchbruch zur Hochdramatischen an großen Häusern. Der Blumenstrauß fürs Vokale aber ging an Jennifer Holloways Chrysothemis: über die glaubhaft ausgestrahlte Körpersehnsucht nach einem männlichen Gegenüber, den Trost mit einem Schal-Knäuel als Kind-Ersatz hinaus leuchtete und glühte da ein echter „Strauss-Sopran“. Wenn dann der enorm spielbegabte Haus-Tenor Peter Marsch aus Aegisth eine grotesk eitle Klinikleiter-Studie mit textgenauem Star-Getue liefert, dann wäre damit die zentrale „Elektra-Hürde“ genommen: einfach vier erstklassige Solisten, das reicht.

Doch Regisseur Claus Guth, Katrin Lea Tag (Bühne) und Theresa Wilson (Kostüme) wollten und zeigten viel mehr. Alles war in einer heutigen Psycho-Klinik der gehobenen Klasse angesiedelt. Die zigarettenrauchenden Dienerinnen gerierten sich wie arrogante „Assistentinnen“, die die kleine „Elektra-Freundin“ die Drecksarbeit machen ließen. Zusätzlich tänzelten mehrfach zu den kleinen Instrumentaleinschüben weitere sechs Dienstboten mit einem nahezu grotesken Getränke-Tablett-Ballett durch die sich verschiebenden Wandteile. Eine Patienten-Gruppe hatte mal Therapie-Runde, mal Fernsehstunde vorm Großbildschirm und durfte am Ende reichlich irrwitzig Karneval feiern. Dann spielten auch Elektra, Chrysothemis und Orest als Kinder „Verstecken und Jagen“ durch die hin- und herfahrenden Wandteil-Räume. Als verstörender Höhepunkt schritt schließlich ein stummer Mann im Bademantel durch die immer wieder imaginär wirkende Szenerie. Als er schließlich Elektra von Hinten seine Hände bestärkend-begütigend-motivierend auf die Schultern legte, wurde ein grauhaariger Vater-Typ erkennbar: wohl Agamemnon, sonst nicht ins Spiel einbezogen, also Elektras sichtbare gewordene Obsession. Ob der an der Hinterwand leuchtende, leer mal auf- und abfahrende Stuhl für ihn bestimmt war – oder für die ferne Iphigenie oder für den später entsühnten Orest, blieb unklar. So hatten Guth und sein Team nicht nur alles einsichtig und nachvollziehbar gemacht, sondern so viel zusätzlich gezeigt, dass sich auch ein „Danke, längst verstanden!“ einstellte. Der Bogen von Sigmund Freud bis ins Heute gelang insgesamt so komplett und eindringlich, dass nach dem Schlussblackout einhelliger Jubel losbrach.

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