Rausch der Propaganda: „Krieg und Frieden“ in der Bayerischen Staatsoper

Bayer. Staatsoper/KRIEG UND FRIEDEN2023/A.Zhilikhovsky/Foto © W.Hoesl

„Krieg und Frieden“ in Zeiten des russischen Angriffskrieges: Opernspielpläne werden lange im Voraus ausgearbeitet. Doch was tun, wenn die Wirklichkeit die Planung in Frage stellt? Dmitri Tcherniakov inszeniert Sergej Prokofjews Monumentaloper – basierend auf Tolstois gleichnamigen Epos, durchtränkt von stalinistischer Propaganda – als radikal-russische Innenbetrachtung. Das erfordert Vorwissen, führt aber zu einer vielschichtigen Parabel auf das Russland der Gegenwart an dessen Ende dem Zuseher die Lust zum Jubeln vergeht.

(Besuchte Vorstellung am 18. März 2023)

 

 

Kristallleuchter und monumentale Säulen zeugen von einer vermeintlich glorreichen Vergangenheit: Auf den ersten Blick prunkvoll erscheint das Bühnenbild in Tcherniakovs Inszenierung. Doch seltsame Dinge gehen vor in dem Abbild der Säulenhalle des Hauses der Gewerkschaften in Moskau, unzählige Menschen suchen Schutz an diesem geschichtsträchtigen Ort. Erbaut vor den napoleonischen Kriegen, überlebte dieses Gebäude den Brand Moskaus. Ballsaal, später Konzerthalle, Schauprozessgerichtssaal und Aufbahrungsort aller sowjetischen Machthaber von Lenin bis Gorbatschow – kaum ein Ort ist so sehr Zeuge russischer Geschichte. Jetzt: Ein Zufluchtsort, dessen Anblick Erinnerungen an ähnliche Orte in der Ukraine hervorruft. Alt und jung, reich und arm finden sich ein. Verbringen hier Tage, Wochen, Monate. Was diese Menschen verbindet? Die Angst vor dem Feind und der Rausch nationalistischer Propaganda.

Als sich der Vorhang öffnet, herrscht Ruhe auf der Bühne. Kein Ton klingt durch das weite Rund der Bayerischen Staatsoper. Die Menschen leben, schlafen, essen, verbringen ihren Tag hier in den immer gleichen Wänden, auf den immer gleichen Feldbetten und Matratzen. Eine willkommene Abwechslung ist da das anstehende Neujahrsfest: Doch wie es ganz besonders gestalten? Die Musik beginnt. „Krieg und Frieden“ soll es sein, die wahrscheinlich monumentalste aller Geschichten. Sogleich werden aus Zeitungen Papierdiademe, -schärpen und -epauletten gefertigt. Schon kann es losgehen: Die Liebesgeschichte zwischen Natascha und Andrej, Nataschas Verführung durch Anatol, der immer zweifelnde Pierre. Viele starke Momente der Personenregie finden sich in diesem mit Frieden überschriebenen ersten Teil der Oper, manchmal drohen sie jedoch in Langatmigkeit und Längen ihren Faden zu verlieren. Das liegt vor allem auch in der Episodenhaftigkeit des Werkes begründet, in dem Prokofjew auf Schlüsselszenen und die Kenntnis von Tolstois Vorlage setzt.

Bayer. Staatsoper/KRIEG UND FRIEDEN 2023/Foto © W.Hoesl

Musikalisch scheut Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski nicht davor in die Extreme zu gehen. Vor allem in den langen Ballszenen des ersten Teils arbeitet er viele Details heraus, überzieht sie scheinbar, zerdehnt, lässt sie so als satirische Kommentierung des Bühnengeschehens erscheinen. So formt Jurowski gemeinsam mit dem Bayerischen Staatsorchester trotz der langen Gesprächsszenen ein immer fließendes Drama und treibt die Handlung voran, die in der zweiten Hälfte mehr Fahrt aufnimmt und in Tcherniakovs Inszenierung zu einem erschreckenden Zeugnis der Grauen des Nationalismus wird.

Großer Chor, stalinistische Propaganda – so beginnt der Krieg-Teil von Prokofjews Oper, Tcherniakov zeigt eine berauschte Masse, betrunken von dem Glauben an die eigene Übermacht. Fäuste geballt und mit weiß-blau-rot kriegsbemalt. Von der Geschichtsrevision benebelt, zieht das Volk in die Schlacht. So vermischen sich Tolstoi-Fiktion und Tcherniakov-Realität, in deren Folge die Episodenhaftigkeit der Oper widererwartend zu einer großen Stärke wird. Gewalt und Verrohung, körperliche Übergriffe auf die schutzsuchenden Frauen, die Ablenkung der Massen durch die Obrigkeit durch eine Satireshow – das alles formt das Bild einer Gesellschaft im patriotischen Propaganda-Wahn, die das Wahrhaftige verkennt. Neben dem Großen steht das Kleine: Andrej, desillusioniert vom Krieg, begeht Selbstmord, beweint von Natascha. Doch außer ihr interessiert sein Tod niemanden, im Krieg hat das einzelne Menschenleben keinen wert.

Bayer. Staatsoper/KRIEG UND FRIEDEN 2023/ O.Kulchynska, A.Yangel/Foto © W.Hoesl

Passend dazu nimmt Jurowski im zweiten Teil das Orchester in vielen Teilen zurück, verweigert sich den orchestralen Explosionen und sucht stattdessen lange Linien. Sicher führt der Generalmusikdirektor die 43 Solist:innen in rund 60 Rollen durch den Abend. Dabei heraus stechen Olga Kulchynska als lyrisch-lebhafte Natascha, Andrei Zhilikhovsky als Andrej mit breit-gefächertem und warm-timbrierten Bariton, sowie Arsen Soghomonyan, der einen scharfsinnig-reflektierten Pierre gibt.

Kaum eine Publikation über Prokofjews Leben kommt ohne den Hinweis aus, dass er am gleichen Tag wie Stalin starb und niemand Notiz vom Tode des Komponisten nahm. Nicht einmal Blumen gab es für seinen Sarg. „Krieg und Frieden“ ist eines von Prokofjews wohl politischsten Werken. Begonnen nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, zahlreiche Male überarbeitet nähert es sich mit jeder Veränderung weiter der Sichtweise des Regimes an. Jurowski und Tcherniakov drehen einige dieser Anpassungen zurück: Ganze Szenen wurden gestrichen, der große Schlusschor erklingt auf ungewöhnliche Art und Weise. Kleine kommentierende und karikierende Momente durchziehen den Abend und machen auch vor dem Komponisten selbst nicht halt. Während der Plünderung Moskaus wandern gleich mehrere Komponistenportraits über die Bühne, zu den Worten „Möge der Meister nach Frankreich zurückkehren“ ist es ausgerechnet Prokofjews eigenes Bildnis.

In dieser Inszenierung geht es um alles, um Krieg und Frieden. Und um Krieg und die Gesellschaft, nicht zuletzt ein Verweis auf die Doppeldeutigkeit des russischen Wortes „Mir“. Diese Parabel auf das Russland der Gegenwart geht dabei über die fiktive Säulenhalle, tief in die russische Gesellschaft aber auch darüber hinaus: Der Krieg von 1812, der zweite Weltkrieg, der Ukrainekrieg – sie alle sind von Menschen gemacht und doch lernt der Mensch so wenig aus ihnen. Die Wiederkehr der Gräuel. So wird „Krieg und Frieden“ an der Bayerischen Staatsoper am Ende zu einer Anti-Kriegsoper.

 

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