»Elektra« als subtile psychologische Persönlichkeitsstudie an der Oper Frankfurt

Elektra ~ Oper Frankfurt ~ Elektra (Aile Asszonyi) ~ © Monika Rittershaus

Blut, das in Eimern ausgegossen wird und über den Bühnenrand rinnt, gefesselte Gefangene mit Säcken über ihren Köpfen, Leichen die von der Decke baumeln… Die Elektra-Inszenierung von Falk Richter an der Oper Frankfurt von 2004 zeigte den Elektra-Stoff äußerst plakativ. Die jetzige Neuinszenierung dieses Klassikers der Moderne hat bei Claus Guth eine diametral andere Umsetzung gefunden. Der an den wichtigsten Opernhäuser gefragte Regisseur hat u. a. im Jahr 2010 an der Oper Frankfurt mit einem tiefsinnigen Blick bereits die Strauss-Oper Daphne inszeniert. Für seine Elektra dringt er noch intensiver in die Titelfigur ein. Er zeigt sie als subtile psychologische Persönlichkeitsstudie eines Opfers, abseits weit verbreiteter Klischees.

Die Oper entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Thema ist der blutrünstige Elektra-Stoff, mit dem sich schon Aischylos, Euripides und auch Sophokles auseinandergesetzt haben. Elektra trauert um den von der Mutter Klytämnestra und ihren Liebhaber Aigisthos mit einer Axt getöteten Vater Aigisthos und fordert Rache. Dem Librettisten Hugo von Hofmannsthal waren die von Sigmund Freud und Josef Breuer verfassten Studien über Hysterie von 1895 bekannt (unbewusste Traumata als Ursache für Hysterie). Entsprechend fokussiert er sich bei seiner Elektra-Fassung ganz auf die Psyche der Hauptfigur. Hier setzt auch Claus Guth an. Er spürt ihrer Vorgeschichte nach. Was führte zu ihrem jetzigen Zustand? Welche Bilder hat sie im Kopf? Was machte sie zu dem, was sie ist? Eine einfache, eindeutige Lösung gibt er nicht, dafür legt er aber viele Fährten, die es während der knapp zweistündigen Aufführung zu entdecken gilt.

Elektra
Oper Frankfurt
sitzend v.l.n.r. Chrysothemis (Jennifer Holloway) und Elektra (Aile Asszonyi) sowie Kinderstatisterie der Oper Frankfurt
© Monika Rittershaus

Blick durch den Vorhang

Die detaillierten szenischen Vorschriften des Librettisten Hugo von Hofmannsthal zu Elektra haben Guth und Bühnenbildnerin Tatrin Lea Tag (erarbeitet hier bereits die Bühnenbilder zu Dido & Aeneas / Herzog Blaubarts Burg und Carmen) außen vorgelassen. Gezeigt wird ein abstrakter und unbestimmter Aufenthaltsraum, in dem versucht wird, Menschen zu helfen. Sie treffen sich zu künstlerischen Veranstaltungen, zum Gruppengespräch und zum Fernsehabend. Wand- und Hängelampen im Art déco-Stil vermitteln eine noble Atmosphäre. Die Wände und vielfach sich über die Bühne bewegende Flächenvorhänge zeigen tapezierte Streifenmuster in mehrheitlich violetter Färbung. Im Laufe der Handlung kommt ein ebenso gefärbter Fadenvorhang zum Einsatz. Steht Violett im Christentum für Buße, Besinnung und Einkehr, symbolisiert es in der Traumdeutung den Wunsch nach innerer Ausgeglichenheit. Streifen wiederum können für die Frage, welcher Linie, welchem Weg gefolgt werden soll, stehen. Wie durch einen Vorhang ist der Zuschauer:innen-Blick auf das Geschehen, auf Elektra. Leicht voyeuristisch, sich vorsichtig annähernd, aber auf Distanz bleibend und nur einen Teilaspekt sehend. Elektras manische Fixierung auf den Vater, auf ihr Traumata, wird optisch durch einen Sessel symbolisiert, der ins Unnatürliche erhöht wird und von dem sie nicht loskommt.

Elektra
Oper Frankfurt
v.l.n.r. Ensemble sowie Klytämnestra (Susan Bullock) und Elektra (Aile Asszonyi)
© Monika Rittershaus

Die deutsch-kanadische Kostümbildnerin Therea Wilson debütiert bei dieser Produktion an der Oper Frankfurt. Die trauernde Elektra trägt ein schwarzes Kleid mit Applikationen auf der Brust, die sich lebensgewandt gebende Schwester Chrysothemis ein Figur betontes, elegantes grünes Kleid (und einen Schal, mit dem sie ihn wie ein Baby formend ihrem Kinderwunsch Ausdruck verleiht). Was bei Klytämnestra auf den ersten Anblick wie ein purpurner Mantel über einem schwarzen Kleid aussieht, erweist sich als ein Kleidungsstück (bei dem die Farbteile nur geschickt miteinander verbunden wurden). Mägde, Dienerinnen und Diener erinnern in ihren weißen Blusen und Hemden auf grauen Röcken und Hosen an Servicekräfte der gehobenen Hotellerie.

Elektra
Oper Frankfurt
Elektra (Aile Asszonyi), umringt von Tänzer*innen
© Monika Rittershaus

Traumatisierte Elektra

Das kammerspielartige Spiel der wenigen Hauptfiguren wurde von Claus Guth um sechs Dienerinnen und drei Tanzpaare erweitert. Sie bilden mit ihren lebhaften Auftritten einen Kontrast zur Hauptfigur. Zusätzlich gibt es von den Hauptfiguren unschuldig wirkende Kindheitsfiguren. Als Visualisierung von Elektras Gedenken tritt mehrfach der getötete Vater Agamemnon (Stephan Biaesch) auf: Aus einer Teetasse kippt er Blut aus, trägt die getötete Iphigenie auf Armen hinaus und ist Elektra oft sehr nah.

Ein Trumpf ist die gebürtige estnische Sopranistin Aile Asszonyi, die als traumatisierte Elektra bei dieser Produktion ihr Debüt an der Oper Frankfurt gibt. Stark in sich gekehrt, haben Elektras innere Beklemmungen auch physische Auswirkungen. Hände und Arme gehorchen ihr nicht, sie entwickeln ein Eigenleben. Der starke szenische Ausdruck wird durch den Farbenreichtum ihrer dramatischen, kraftvollen Stimme famos unterlegt.
Bei der Elektra-Premierenserie 2004 gab die britische Sopranistin Susan Bullock die Titelfigur. Knapp 20 Jahre später ist sie jetzt mit großer Autorität und Würde als beherrschte Klytämnestra zu erleben.
Eine starke szenische Präsenz zeigt auch die amerikanische Sopranistin Jennifer Holloway als bezaubernd lyrisch singende Chrysothemis.
Tenor Peter Marsh gibt den selbstsicheren und hier fröhlich tänzelnden Liebhaber Aegisth (und weitere stumme Figuren). Seinen profunden Bass führt Kihwan Sim als Bruder Orest souverän vor (der hier nur in der Fantasie Elektras erscheint). Dazu ergänzen der Chor der Oper Frankfurt (Einstudierung: Tilman Michael) und u. a. Franz Mayer (Pfleger des Orest) und die fünf Mägde (Katharina Magiera, Helene Feldbauer, Bianca Andrew, Barbara Zechmeister und Monika Buczkowska) das Geschehen.

Elektra
Oper Frankfurt
rechts Chrysothemis (Jennifer Holloway; rennend) und Elektra (Aile Asszonyi; liegend) sowie Ensemble
© Monika Rittershaus

Extrem ist nicht nur die Gewaltspirale der Erzählung, sondern auch die Musik von Richard Strauss. Bis an die Grenze der Harmonik gehend, ist sie schon ob der überdurchschnittlich großen Orchesterbesetzung und der Klangausbrüche eine Herausforderung. GMD Sebastian Weigle und das groß besetzte Frankfurter Opern- und Museumsorchester korrespondieren in ihrer musikalischen Umsetzung mit der szenischen Umsetzung Claus Guths. Das „Gemenge aus Nacht und Licht, schwarz und hell“ (Hofmannsthal) hat bis ins Mark gehende Klangausbrüche, dazu aber sehr viele zarte Zwischentöne für die verletzten Seelen der Protagonistinnen.

Am Ende stirbt Aegisth ohne äußere Einwirkungen. Traum und Realität Elektras sind nicht zu trennen. Dann sinkt auch sie danieder. Großer und lang anhaltender Jubelapplaus für alle Beteiligten.

Markus Gründig, März 23


Elektra

Tragödie in einem Aufzug
Von: Richard Strauss
Text: Hugo von Hofmannsthal nach Sophokles
Uraufführung: 25. Januar 1909 (Dresden, Königliches Opernhaus)

Premiere an der Oper Frankfurt: 19. März 23
Besuchte Vorstellung: 24. März 23

Musikalische Leitung: Sebastian Weigle
Inszenierung: Claus Guth
Bühnenbild: Katrin Lea Tag
Kostüme: Theresa Wilson
Licht: Olaf Winter
Chor: Tilman Michael
Dramaturgie: Konrad Kuhn

Besetzung:

Elektra: Aile Asszonyi
Klytämnestra: Susan Bullock
Chrysothemis: Jennifer Holloway
Aegisth: Peter Marsh
Orest: Simon Bailey (19. März) / Kihwan Sim
Der Pfleger des Orest: Franz Mayer
Ein junger Diener: Jonathan Abernethy / Theo Lebow (1., 5. Mai)
Ein alter Diener: Seungwon Choi
Die Aufseherin: Nombulelo Yende°
Erste Magd: Katharina Magiera
Zweite Magd: Helene Feldbauer°
Dritte Magd: Bianca Andrew
Vierte Magd: Barbara Zechmeister / Michelle Ryan (24. März)
Fünfte Magd: Monika Buczkowska
Die Vertraute: Camelia Suzana Peteu
Die Schleppträgerin: Michaela Gisela Schaudel
Sechs Dienerinnen: Camelia Suzana Peteu / Michaela Gisela Schaudel / Edeltraud Pruß / Enikö Boros / Jianhua Zhu / Hiromi Mori
Tanz: Evie Poaros / Gal Fefferman / Marion Plantey / Mirjam Motzke / Rouven Pabst / Jonathan Schmidt

Chor der Oper Frankfurt
Frankfurter Opern- und Museumsorchester


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